Sechs Primarlehrpersonen, die sich auf den Migrationskontext spezialisiert haben, erzählen, worauf sie in ihrem Schulalltag besonders achten und was ihnen dabei hilft.

Text: Carola Mantel

Von den Spezialisierten lernen

«Das ist anstrengend» ist oft das erste, das einem einfällt, wenn die Schule der Migrationsgesellschaft zur Sprache kommt. Wir wollten es genauer wissen und haben diese Frage in einem Forschungsprojekt(1) untersucht. Dabei haben wir Erstaunliches gefunden: Es gibt Lehrpersonen, die erfolgreich im Migrationskontext unterrichten und ihre Arbeit nicht als anstrengend empfinden. Oft suchen sie sich sogar zusätzliche Aufgaben: Sie bieten Weiterbildungen an, engagieren sich für Geflüchtete, nehmen Pflegekinder auf oder arbeiten nach der Pensionierung noch weiter. Was machen diese Lehrpersonen anders als Andere?
Sechs von ihnen werden im Folgenden vorgestellt(2). Sie haben zwar ihre je unterschiedlichen Spezialisierungen entwickelt, haben aber auch einiges gemeinsam: Alle sechs erleben sich als wirksam und haben Lust, immer wieder Neues auszuprobieren. Und: Ihr Handeln entspringt selten einem Gefühl von Enge und Angst. Stattdessen gründet es vielmehr in einer Art Grundvertrauen. Es ist ein Vertrauen, das sich sowohl auf sie selbst und ihr eigenes Handeln bezieht als auch auf Andere und deren jeweilige Sichtweisen. Und schliesslich – das soll nicht unerwähnt bleiben – schaffen sie es, trotz ihres grossen Engagements auch immer wieder für gesunden Ausgleich zu sorgen.

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«Es entsteht oft irgendwie eine gute Beziehung zwischen meinen Schülerinnen und Schülern und mir» sagt Frau Bruno in nachdenklichem Ton und es wird deutlich, dass sie davon mitunter auch selbst überrascht ist.
 

Vor einigen Jahren hat sie mit einem ihrer Schüler, Bojan, sehr schwierige Auseinandersetzungen erlebt und war manchmal unsicher, ob sie für ihn eine gute Lehrerin war. Ausgerechnet Bojan ist es dann aber, der als 15-Jähriger auf einmal auf der Abdankungsfeier auftaucht, als Frau Bruno ihren Vater beerdigen muss. Er streckt ihr ein Kärtchen mit seiner Beileidsbekundung entgegen. Als sie mit ihm ins Gespräch kommt, wird ihr klar, dass er trotz der Reibungen oder vielmehr wegen und in den Konflikten auch erlebt hat, von ihr ernst genommen und gehört zu werden.
 

Was in Frau Brunos Erzählungen auffällt, ist ihr genuines Interesse an den Geschichten all ihrer Schülerinnen und Schüler. Sie kann viel über sie erzählen. Dabei hat sie sich offenbar angewöhnt, diese Geschichten mit viel Würde und Wertschätzung zu betrachten.
 

So erzählt sie etwa von ihrer Schülerin Catarina, die im Alter von fünf Jahren mit ihren Eltern aus Portugal in die Schweiz migriert ist. Die Eltern hatten wegen Ernteausfällen ihre Arbeit verloren und waren dabei, sich unter hohem Arbeitseinsatz eine neue Existenz aufzubauen, sodass sie oft ausser Haus sind und Catarina dann jeweils auf ihre jüngeren Geschwister aufpasst. Wenn Catarina morgens in die Schule kommt, hat sie bereits für alle Frühstück gemacht, Znünisäckli gepackt und zuletzt dafür gesorgt, dass die Wohnungstür abgeschlossen ist.
 

Mustafa hat einen Vater, der Bibliothekar gewesen ist und liebt es, wenn er Bücher vorgelesen bekommt; Ersa, die als Kind im Kosovo war und dort beim Kühe Hüten geholfen hat, ist sehr klein, aber sie habe «ganz viel Kraft in sich»; und Jeshua hat eine aramäische Familiengeschichte und eine Mutter, die aramäische Lieder singen kann.
 

Aber Frau Bruno schaut nicht nur hin, wenn es um die spannenden Details in den jungen Lebensgeschichten geht, sondern ist auch aufmerksam, wenn es Probleme gibt. So kümmert sie sich etwa darum, als sie bemerkt, dass die Mutter einer Schülerin an Depressionen leidet und die Schülerin zusätzliche Unterstützung bei den Hausaufgaben benötigt. Als Drogen auf dem Pausenplatz zu einem Problem werden, sorgt sie dafür, dass die Polizei gerufen wird. Auch bei einem heftigen Konflikt zwischen einem albanisch-sprachigen und einem serbisch-sprachigen Jungen schaut sie nicht weg und findet immer wieder kreative Wege, um zu einer Lösung beizutragen. Wirksam ist schliesslich ihre Idee, die beiden intensiv über ihre Gedanken und Gefühle schreiben zu lassen, während sie sich gegenüber sitzen. Diese Möglichkeit, die Frustrationen zum Ausdruck zu bringen und dafür die Aufmerksamkeit der Lehrerin zu bekommen, führt schliesslich dazu, dass sich der Konflikt zwischen ihnen langsam entspannen kann.
 

Es scheint dieses mutige Hinschauen zu sein, das bewirkt, dass sich ihre Schülerinnen und Schüler gesehen und geschätzt fühlen. Es ist ihr ehrliches, engagiertes Interesse, aus dem das Gefühl von Beziehung entsteht.

Inwiefern ist das eine Spezialisierung?
 

Die Geschichte von Bojan auf der Abdankungsfeier weist darauf hin, dass er Frau Bruno nicht als eine von vielen, sondern als eine besondere Lehrerin erlebt hat.
 

Studien zeigen, dass der Wunsch nach guten Beziehungen zu Schülerinnen und Schülern häufig von Unsicherheiten und Ängsten – oft auf beiden Seiten – erschwert wird, insbesondere dann, wenn Gefühle von «Fremdheit» im Spiel sind. Wenn uns jemand fremd vorkommt, reagieren wir oft mit Zurückhaltung. Jemand hat eine Migrationsgeschichte oder spricht Deutsch nicht als Erstsprache und schnell entsteht eine Distanz der Unsicherheit: Verstehen wir uns? Wird es jetzt mühsam? Belastend? – Die Leichtigkeit scheint nicht im gleichen Mass gegeben zu sein wie andernorts. Bei Lehrpersonen kann das bedeuten, dass sie sich zu manchen Schülerinnen und Schülern distanzierter verhalten als zu Anderen. Manchmal wird das Kennenlernen durch das Zuschreiben von Stereotypen ersetzt, sodass Schülerinnen und Schüler und deren Eltern kaum Chancen haben, sich jenseits der Negativzuschreibungen zu zeigen und gesehen zu werden.
 

Frau Bruno hat eine Haltung entwickelt, mit der sie diesen Unsicherheiten in wirkungsvoller Weise begegnen kann: Sie hat die Gewohnheit eines positiven, wertschätzenden Blicks und schenkt ihren Schülerinnen und Schülern und deren Eltern auf diese Weise eine Art Vorschussvertrauen. Zudem hat sie ein genuines Interesse, sie mit ihren Geschichten kennenzulernen und sich auch davon überraschen zu lassen, wenn diese Geschichten nicht den gängigen Erwartungen entsprechen. Sie sieht gewissermassen den Menschen jenseits des Stereotyps und ersetzt die Distanz durch Beziehung.

 

Worin besteht die Entlastung?
 

Eine Lehrerin erzählt, dass einer ihrer Schüler mit seinen Eltern aus dem Kosovo in die Schweiz migriert ist und dass sie die Zusammenarbeit mit ihm und seinen Eltern als sehr belastend empfunden habe: Der Vater habe bei ihrer ersten Begegnung zuerst das Schulzimmer lange Zeit nicht gefunden, sei dann gestresst gewesen und aggressiv aufgetreten, was ihr Angst gemacht habe. Immer wenn sie seinen Sohn gesehen habe, habe sie in ihm auch diesen Vater gesehen. Manchmal konnte sie sich dabei beobachten, dass sie den Schüler weniger zu Wort kommen liess als andere Kinder, am liebsten wäre ihr gewesen, er wäre gar nicht Teil der Klasse gewesen, sie empfand die Situation als sehr anstrengend. Als das nächste Gespräch mit dem Vater stattfinden sollte, kam ihr in den Sinn, dass sie Fotos einer Reise mitnehmen könnte, auf der sie als Kind mit ihren Eltern einmal kurz im Kosovo gewesen war. Es waren Fotos von Städten, Landschaften und von ihnen als Familie. Als sie dem Vater diese Fotos zeigte, sei er ganz verändert gewesen und habe auf einmal angefangen, viel von der Geschichte dieses Landes zu erzählen und eigene Fotos zu zeigen. Das sei ein Wendepunkt gewesen in ihrer Zusammenarbeit. Und: Die Last sei danach deutlich gemindert gewesen, stattdessen sei eine Erleichterung eingetreten, vermutlich sogar auf beiden Seiten.
 

Diese Lehrerin hat einen ähnlichen Weg gewählt wie Frau Bruno. Auch sie hat nach dem Beziehungsmoment gesucht und die Zusammenarbeit dadurch verbessern können. Manchmal entsteht dabei erstaunlich schnell ein «guter Draht» zueinander, manchmal kommt das Angebot auch vom Gegenüber und manchmal brauchen die Dinge mehr Zeit.

In der Schule der Migrationsgesellschaft kann leicht eine Dynamik entstehen, die von gegenseitigen Zuschreibungen und Erwartungen geprägt ist, aber in der wenig echter Austausch stattfindet. Negativvermutungen und Misstrauen sind eine grosse Belastung. Frau Bruno setzt dieser potenziellen Dynamik ein echtes Interesse am Kennenlernen entgegen und ermöglicht auf diese Weise nicht nur Beziehung, sondern auch Entlastung.

Welcher Weg führt da hin?
 

Jede Lehrperson ist anders und sucht in unterschiedlicher Weise nach Entwicklung. Was Frau Bruno für sich gefunden hat, könnte in folgender Weise inspirierend sein:

  • Die eigene Unsicherheit anerkennen: Es ist nichts Ungewöhnliches, sich in zwischenmenschlichen Beziehungen unsicher zu fühlen, insbesondere dann, wenn ein Gefühl der Fremdheit mitspielt. Das Anerkennen dieses Gefühls kann den Weg öffnen für Weiteres.


  • Beziehung wagen: Es ist für Kinder wesentlich bedeutsam, als eigenständige Persönlichkeiten gesehen zu werden und Resonanz auf ihre Einzigartigkeit zu erfahren. Distanz und Entfremdung in der Beziehung zur Lehrperson stehen dieser Erfahrung im Weg.


  • Stereotype erkennen: Negativzuschreibungen im Migrationskontext sind insbesondere dann machtvoll, wenn sie nicht erkannt werden. Was nicht erkannt ist, kann kaum verändert werden. Je mehr Stereotype erkannt werden, desto mehr wird offensichtlich, wie viel subtile Negativzuschreibung und Abwertung sie oft enthalten. Das zu sehen ist der Weg, um sie nicht unbewusst zu reproduzieren. Recherchen und Weiterbildungen können hier helfen.


  • Ins pädagogische Können investieren: Es mag seltsam scheinen, ist aber bedeutsam: Wer den Schulalltag zu strukturieren und zu gestalten weiss, schafft einen verlässlichen Rahmen, der das Erleben von guter Beziehung massgeblich unterstützt.

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«Es ist ganz einfach», sagt Herr Peter, «Kinder wollen lernen und Eltern wollen das Beste für ihre Kinder».
 

Der Lehrer Felix Peter hat eine pädagogische Orientierung, die eine Art «Grundverdacht» enthält: Im Zweifelsfall das Gute. Und er scheint damit gut beraten zu sein, denn seine Erfahrungen sind ebenso positiv wie seine Einstellung.
 

Einer seiner Fünftklass-Schüler hatte den Wunsch geäussert, sich in Mathe zu verbessern, er wollte von einer 4 mindestens auf eine 4.5 kommen. «Okay», sagte er, «das ist realistisch, wir machen das zusammen, ich zeige dir, wie du es schaffen kannst». Die beiden verbündeten sich und entwickelten für ihr gemeinsames Ziel so viele kleinere und grössere Erfolgserlebnisse, dass der Schüler in seinem nächsten Zeugnis sogar eine 5 feiern konnte.
 

Eine seiner Schülerinnen war kürzlich aus einem anderen Ort zugezogen und deshalb neu in seiner Klasse. Sie wuchs mit ihren Suaheli- und Deutschkenntnissen zweisprachig auf. Im Fach Englisch brachte sie tiefe Noten mit. Als Herr Peter aber hörte, wie gut sie in der Lage war, auf Englisch mündlich zu kommunizieren, war ihm klar, dass hier ein Potenzial unerkannt geblieben war, vermutlich wegen ihres Entwicklungsbedarfs in der schriftlichen Sprache, englisch wie deutsch. «Die früheren Lehrpersonen dachten, sie kann kein Englisch, weil sie nur ihr Geschriebenes gesehen haben und an die Zweisprachigkeit dachten, aber wahrscheinlich haben sie ihr gar nie zugehört!» war sein kritischer Kommentar dazu. In der Folge ermöglichte er ihr viele Erfolgserlebnisse im englischen Sprechen, was nicht nur viel Spass machte, sondern auch ihre Englischnote deutlich verbesserte.
 

«Im Zweifelsfall positiv» ist eine Haltung, die bei Felix Peter bewirkt, dass er das Potenzial erkennt und an das Leistungsvermögen glaubt. Dabei scheint es, dass nebst seiner offenbar realistisch-optimistischen Einschätzung auch seine positive Zuschreibung viel bewirkt: Die Schülerinnen und Schüler erleben, dass ihnen der Lehrer das Gelingen zutraut und sie darin ausserdem wirkungsvoll unterstützen kann.
 

Dabei ist Herrn Peter auch bewusst, dass seine Aufmerksamkeit, die er insbesondere den Benachteiligten schenkt, kein Goodwill oder Luxus ist, sondern eine Notwendigkeit. Er weiss, dass Schülerinnen und Schüler mit stigmatisierungsanfälligen Aspekten wie Mehrsprachigkeit, Migrationsgeschichte, tiefer sozialer Schicht, Islam oder Schwarz-sein typischerweise nicht die gleichen Bildungschancen bekommen wie Andere, unter anderem, weil sie in ihrem Potenzial unterschätzt und auch nicht angemessen gefördert werden. Felix Peter weiss auch, dass er diese Benachteiligungen nicht vollständig ausgleichen kann, aber er erkennt seinen Handlungsspielraum, nutzt ihn und trägt auf diese Weise etwas dazu bei, dass diese Bildungsgeschichten gute Verläufe nehmen können.
 

Sein Credo gilt nicht nur seinen Schülerinnen und Schüler, sondern auch der Zusammenarbeit mit deren Eltern. Er geht wie selbstverständlich davon aus, dass die Eltern das Beste für ihre Kinder wollen, wobei das starke Betonen dieser Überzeugung auch erahnen lässt, wie oft er mit gegenteiligen Meinungen konfrontiert ist. So erzählt er etwa auch, dass manche seiner Kolleginnen und Kollegen dazu neigten, Eltern mit nicht-deutscher Muttersprache nicht so richtig ernst zu nehmen und mit ihnen in einer Art «Dubelisprache» – so nannte er es wörtlich – zu sprechen. Seine Empörung darüber ist in seiner Erzählung kaum zu überhören.

Inwiefern ist das eine Spezialisierung?
 

Herrn Peters Sichtweise und Einstellung ist durchaus nicht selbstverständlich, denn Studien zeigen, dass die Benachteiligungen oft erheblich sind und dass Lehrpersonen dazu tendieren, Potenzial zu übersehen, sich an Defiziten zu orientieren, durch tiefe Leistungserwartungen zu demotivieren und Beurteilungen entlang stigmatisierungsanfälliger Merkmale zu verzerren. Es handelt sich dabei oftmals um unbewusste Prozesse, die uns als Lehrpersonen typischerweise verborgen bleiben.
 

Was dabei auch eine Rolle spielen kann, sind Gefühle von Mitleid: Es ist ein gängiges Stereotyp, migrierte Eltern als «bildungsfern», «rückständig» und sogar «erziehungsunfähig» zu betrachten und aus dieser abwertenden Betrachtung heraus Mitleid mit deren Kindern zu entwickeln. Unbewusst wird das jeweilige Kind in seinem Lernen dann geschont statt angemessen herausgefordert.
 

Auch kann es sein, dass man sich als Lehrperson enttäuscht und erschöpft fühlt: Angesichts all der Benachteiligungen oder schwierigen Lebenssituationen kann sich ein Gefühl breit machen, das mit dem Gedanken verbunden ist: «Das hat doch ohnehin keinen Sinn», «da kann man ja doch nichts machen» oder «was ich beitragen kann, ist immer zu wenig» und als Folge davon auch: «Das ist doch eigentlich die Aufgabe der Eltern und nicht meine!».

 

Worin besteht die Entlastung?
 

Obwohl sich Felix Peter sehr für das schulische Fortkommen all seiner Schülerinnen und Schüler engagiert und auch den Benachteiligungen Beachtung schenkt, macht sich das bei ihm nicht als Belastung bemerkbar, eher im Gegenteil: Die Freude über das Gelingen motiviert ihn zu weiteren Unterstützungsversuchen und bestärkt ihn darin, mit seiner Haltung auf gutem Weg zu sein.
 

Ganz besonders inspirierend sind für ihn auch diejenigen Geschichten, die er von ehemaligen Schülerinnen und Schülern erzählen kann: Ein ehemaliger Schüler, dem von vielen wenig Potenzial zugeschrieben wurde, gilt jetzt in seinem Lehrlingsbetrieb als Vorzeigelehrling. Eine seiner Schülerinnen konnte durch sein Engagement und gegen Widerstand aus dem Kollegium in die Sek A eingeteilt werden und behauptet sich dort gut. Und ein weiterer ehemaliger Schüler sagt über ihn, er habe ihn genau dann unterstützt, als er es am meisten gebraucht habe, nämlich als er den Glauben an sich selbst verloren hatte.
 

Teil solcher Geschichten sein zu können, ist für Felix Peter in hohem Masse sinnstiftend und ermutigend. Und sie sind ein Ausgleich für jene Unterstützungsversuche, die nicht oder nicht unmittelbar gelingen. Unter dem Strich bereitet die Arbeit Herrn Peter sehr viel Freude.


Welcher Weg führt da hin?
 

Um diesen Weg zu finden, sind einige zentrale Voraussetzungen erforderlich:

  • Die Reproduktion von ungleichen Bildungschancen verstehen, um zu wissen, inwiefern das Handeln von Lehrpersonen darauf einen Einfluss hat.


  • Gefühle von Frustration und Begrenztheit anerkennen: Je mehr man sich mit Bildungsbenachteiligungen auseinandersetzt und sieht, wie ungerecht Bildungschancen verteilt sind, desto mehr kann man den eigenen Beitrag als unzureichend und limitiert erleben. Es ist gut, dieses Gefühl anzuerkennen.


  • Andernfallsneigen wir zu Schuldzuweisungen, um uns von dem unangenehmen Gefühl zu entlasten, etwa im Sinn von: «Es ist nicht meine Schuld, eigentlich müssten doch die Eltern…» etc.


  • Trotz der Begrenztheit den Handlungsspielraum finden und optimistisch nutzen: Felix Peter überschätzt sich nicht, aber nutzt seinen Handlungsspielraum. Er weiss, dass sein Berufsauftrag nicht daran ausgerichtet ist, Gerechtigkeit herzustellen oder die Eltern zu verändern, sondern seiner pädagogischen Aufgabe als Lehrer bestmöglich gerecht zu werden, einschliesslich dem Ausgleichen von Benachteiligungen, soweit das für ihn möglich ist.


  • Die pädagogische Handlungsfähigkeit stärken: Das Lernen aktiv und kreativ zu fördern, kann unglaublich viel Freude machen, wenn es gelingt. Es lohnt sich daher, diese Kernaufgabe immer wieder zu stärken und weiterzuentwickeln.


  • Die entstehende Selbstwirksamkeitserwartung geniessen: Erfolgserlebnisse, die durch eigenes Handeln ermöglicht wurden, bedeuten, dass wir uns als selbstwirksam erleben können und bei der nächsten Herausforderung erneute Selbstwirksamkeit eher erwarten, sodass daraus eine Dynamik entstehen kann, die sich aus sich selbst heraus verstärkt: Gelingendes zieht mehr Gelingendes nach sich, sowohl bei den Schülerinnen und Schülern als auch bei den Lehrpersonen. Ein positiver Grundverdacht lässt sich auch auf sich selbst anwenden. Ebenso wie auf Andere. Er tut allen gut.
     

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«Kennen Sie das Gefühl, wenn Sie für einen Moment die Welt aus den Augen eines Kindes sehen können? Für einen Moment verstehen Sie seine Logik und finden die Antwort, die wirklich hilfreich ist. Das ist ein beflügelnder Moment.»
 

Lucia Fernandez weist auf etwas hin, das im Schulalltag eine riesige Hilfe wäre, aber viel zu selten zur Anwendung kommt: das echte Interesse an der Sichtweise und der Logik des Gegenübers.
 

Frau Fernandez ist seit vielen Jahren mit einem Mann verheiratet, der als Arbeitsmigrant aus Spanien in die Schweiz gekommen ist, während sie selbst in der Schweiz aufgewachsen ist. Lange Zeit war seine Welt und die Welt seiner Verwandtschaft eine sehr fremde Welt für sie, bis sie begann, sich wirklich dafür zu interessieren. Sie fing an, Fragen zu stellen und wollte einfach nur zuhören und verstehen. Sie fand es immer unwichtiger, darüber zu urteilen, was «richtig» oder «falsch» war und immer reizvoller, ihre eigene Weltsicht durch die Sichtweisen Anderer zu vergrössern.
 

Als Lehrerin wurde sie zunehmend froh um diese Ressource: Sie hatte eine Vorstellung davon, wie es ist, eine Geschichte der Arbeitsmigration zu haben und was es heisst, durch die Migration an Ansehen zu verlieren. Wenn Diplome nicht anerkannt werden und man auf dem Arbeitsmarkt zu den letzten gehört, die genommen werden und den ersten, die entlassen werden. Und wenn man mit dem Lohn nebst der eigenen Familie auch die Verwandtschaft im Herkunftsland unterstützt. Lucia Fernandez hat zunehmend eine Ahnung davon und weiss doch, dass sie vieles nicht weiss. «Man muss immer eine Lücke lassen» sagt sie, «weil es immer etwas gibt, das man noch nicht verstanden hat.»
 

In der Schule hat sie sich angewöhnt, allen etwas besser zuzuhören. Seit sie das tut, findet sie bessere Antworten. Sie passen besser zu dem, was das jeweilige Kind gerade beschäftigt.

Inwiefern ist das eine Spezialisierung?
 

Studien zeigen, dass viele Lehrpersonen unter grossem Druck stehen, sehr schnell zu entscheiden und dass sie dabei verständlicherweise auf das zurückgreifen, was für sie «normal» ist: Was in diese «Normalität» passt, wird gesehen, was nicht dazu passt, wird ausgeblendet oder sogar unbewusst abgewertet. Oft sehen wir die Welt, wie wir sie sehen wollen und nicht, wie sie wirklich ist. Dieser Effekt ist besonders stark, wenn wir unter Druck stehen.
 

Eine Lehrerin erzählt, dass sie vollkommen frustriert sei. Die Eltern, die aus Eritrea migriert sind, interessierten sich überhaupt nicht für die Bildung ihrer Kinder und kämen nie zu den Elternanlässen. Ohne Unterstützung der Eltern habe sie aber keine Chance, die Kinder schulisch weiterzubringen. Sie wünschte sich, es gäbe an der Schule «Kulturbeauftragte», die sich um diese Probleme kümmern würden. Sie könne das nicht lösen.
 

Lucia Fernandez erzählt eine Geschichte, die ähnlich beginnt, dann aber einen anderen Verlauf nimmt: Während sie beobachtet, dass manche Eltern auf ihre Einladungen nicht reagieren, überlegt sie sich, woran es tatsächlich liegen mag, dass die Zusammenarbeit nicht funktioniert: Vielleicht sind sich die Eltern gewohnt, dass man sich als Eltern in der Schule nicht einzumischen hat? Haben sie durchaus ein hohes Interesse an der Bildung ihrer Kinder, können aber bei konkreten Aufgabenstellungen wenig Unterstützung anbieten, was sich auch beschämend anfühlen kann? Stehen ihre Arbeitszeiten im Konflikt mit den Zeitfenstern der Elternveranstaltungen? Ist die Teilnahme mit Ängsten verbunden? – Mit der Zeit findet sie heraus, dass es für die Eltern hilfreich ist, wenn sie Zeitfenster ab 19 Uhr anbietet. Für die anderen Fragen lässt sie sich Zeit, denn sie kann gut damit leben, nicht gleich alles zu verstehen. Sie weiss: Es mag gute Gründe geben, die sie nicht – oder noch nicht – kennt, mit der Zeit werden die Eltern und sie immer mehr übereinander erfahren und zunehmend Möglichkeiten finden, die Zusammenarbeit miteinander zu gestalten.

Aus einer anderen Begebenheit erzählt Frau Fernandez, wie sie einmal nach einem Elterngespräch erlebt hat, dass ein Vater am Parkplatz auf dem Weg zum Auto einmal begonnen hat, aus seiner eigenen Schulzeit zu erzählen, insbesondere von einem Tag, an dem er vor der Klasse einen Text vorlesen sollte, dabei stottern musste, aus lauter Scham dann noch mehr stottern musste und schliesslich von der Lehrerin dafür gescholten wurde. Seine Schulzeit sei schrecklich gewesen und er machte am liebsten einen grossen Bogen um jedes Schulhaus. Dieser Vater musste wohl gespürt haben, dass Frau Fernandez gerne zuhört und interessiert ist daran, die Eltern besser zu verstehen.

Worin besteht die Entlastung?
 

Enge Normalitätsvorstellungen und Stereotypsierungen enthalten nicht nur Abwertungen, sie führen auch zu Missverständnissen und einem Mangel an Selbstwirksamkeit auf beiden Seiten. Beide Seiten schütteln den Kopf über die jeweils Anderen. Vielleicht bauen sich auch Ängste auf. Das kostet viel Kraft.
 

Lucia Fernandez verzichtet auf die Anstrengung, die «Normalität» einer engen Weltvorstellung zu verteidigen und entwickelt ein grösseres Weltbild, in dem es viel mehr Platz hat, auch für das, was sie nicht – oder noch nicht – verstehen kann. Auf diese Weise sieht sie die Wirklichkeit jenseits der Stereotype und findet immer wieder wirksame Handlungsmöglichkeiten, was sie als ermutigend und erfreulich empfindet.

Welcher Weg führt da hin?
 

  • Anerkennen, dass es schwer ist, gleichzeitig unter Druck zu stehen und andere Sichtweisen wahrzunehmen. Es ist wichtig, diese Abwärtsspirale von Druck und Frustration zu unterbrechen. Es lohnt sich, immer wieder bewusst den Druck herauszunehmen und Momente des echten Zuhörens zu schaffen.


  • Aus der kleinen Welt eine grosse Welt werden lassen: Es ist spannend, die eigenen Sichtweisen durch andere zu erweitern, dadurch die eigene Welt grösser werden zu lassen und zu erleben, dass darin viel mehr Platz ist als man oft denkt. Auf Reisen lässt sich das wunderbar üben.


  • Ab und zu bewusst auf das Bewerten verzichten: Beim Zuhören ist es ein grosser Vorteil, sich davon zu entlasten, beurteilen zu müssen, was gut, schlecht, richtig oder falsch ist. Für einen Moment akzeptieren, dass alles zunächst einfach so ist, wie es ist, kann den Blick öffnen und das Wahrnehmen anderer Perspektiven ermöglichen.


  • Ab und zu bewusst auf das Vergleichen verzichten: Wer sich für andere Perspektiven öffnen will, muss darauf vertrauen können, dass die eigene dadurch nicht abgewertet wird. Wir sind es gewohnt, alles in Vergleiche zu setzen. Aber auf das Vergleichen kann man auch verzichten. Und das eigene Gewordensein verdient ebenso viel Respekt wie die Lebensgeschichten Anderer, sie müssen nicht gegeneinander ausgespielt werden.

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Herr Iseli sprudelt. Er liebt es, Neues auszuprobieren. Auf verborgene Wissensschätze geht er zu wie auf die automatischen Glastüren eines Kaufhauses: Er geht davon aus, dass sie sich öffnen, wenn er kommt. Und zum Glück birgt jede Entdeckung die Einladung einer weiteren in sich. Die Möglichkeiten, sich Wissen und Horizonte zu erschliessen, gehen ihm nicht aus.
 

Diese Neugier ist ansteckend: Als Lehrer ist Philipp Iseli eine grosse Inspiration, um gemeinsam zu lernen. Wenn etwa im Unterricht die Situation entsteht, dass über die Religionen in Ostafrika diskutiert wird und er merkt, dass das manche seiner Schülerinnen und Schüler auch aus persönlichen Gründen beschäftigt, dann geht er mit ihnen gemeinsam diesen Fragen nach. «Ihr habt Ressourcen!» vermittelt er vor allem seinen Schülerinnen und Schülern mit Migrationsgeschichte. «Ihr habt ein Weltwissen, das mit eurer Geschichte zusammenhängt!». Und: «Es macht Spass, dieses Weltwissen laufend zu erweitern».
 

Als er plant, mit den Schülerinnen und Schülern das Vortragen zu üben und ihnen aufträgt, sich eine berühmte Persönlichkeit zu suchen, über die sie erzählen können, macht er sie darauf aufmerksam, dabei auch an weniger bekannte Persönlichkeiten aus anderen Ländern zu denken, an «People of Colour» oder an Minderheitenangehörige. Philipp Iseli weiss, dass die Repräsentation von Minderheiten oder Benachteiligten im Sinn von Vorbildern wichtig ist und er hat überhaupt keine Scheu davor, auch über ihm unbekannte Figuren zu sprechen, im Gegenteil: Das macht es auch für ihn besonders spannend.

 

Inwiefern ist das eine Spezialisierung?
 

In der Hektik des Schulalltags kann es naheliegend erscheinen, immer wieder auf das bereits Bekannte zurückzugreifen, vielleicht auch aus der Angst heraus, am weniger Vertrauten zu scheitern.
 

Obwohl das verständlich erscheinen mag, ist es auch ein verschenktes Potenzial, denn die Freude am Ausprobieren – einschliesslich der Option zu scheitern – ist ein bedeutender Moment echten Lernens und hat eine starke Vorbildwirkung für die Schülerinnen und Schüler. Der Gefahr zu scheitern begegnet Philip Iseli mit einer einfachen Formel: Wenn es nicht gelingt, dann ist die Lösung eben einfach noch nicht gefunden. Ein erneuter Versuch ist erforderlich.
 

Diese Haltung kreativer Beweglichkeit ermöglicht zudem, immer wieder an den jeweils aktuellen Interessen und Fragen der Schülerinnen und Schüler anzuknüpfen und sich mit ihnen gemeinsam neues Wissen zu erschliessen.

Worin besteht die Entlastung?
 

Auf diese Beweglichkeit zu verzichten, ist nicht nur eine verschenktes Potenzial, es kann auch dazu führen, dass keine Lösung gefunden werden kann.
 

Philipp Iseli erzählt davon, dass sie auf dem Pausenplatz ein kniffliges Geschehen hatten, das sich nicht leicht lösen liess: Es hatte sich etabliert, dass eine Gruppe von Kindern aus der Ukraine und eine Gruppe von Kindern, die schon lange in der Schweiz sind, in der Pause jeweils aufeinander losgingen. Es entwickelte sich dabei eine wütende Dynamik, die immer stärker wurde, weil sich die Kinder jeweils für alle subjektiv empfundenen Niederlagen des Vortages rächen wollten. Manche Lehrpersonen waren ratlos, weil alles Dazwischengehen nicht zu nützen scheint. Der Konflikt verlagerte sich stattdessen in die Zeit nach der Schule und an verborgende Orte. Aus der Hilflosigkeit heraus machten sich Stimmen bemerkbar, die meinten: «Die Eltern sind selber Schuld, sie sind ja diejenigen, die die Konflikte anheizen, es ist nicht unsere Aufgabe, das zu lösen!» - Die Resignation ist verständlich. Gleichzeitig erstaunt es nicht, dass es Philipp Iseli ist, der Ideen einbringt und ausprobieren möchte: Zunächst führt er ein neues Ritual ein, indem er seine Klasse erst in die Pause lässt, nachdem alle gemeinsam etwas gegessen haben. Das mag den Konflikt nicht lösen, aber gibt ihm eine bessere – eine nicht-hungrige – Ausgangslage. Dann spricht er intensiv mit seiner Klasse über Kriegserfahrungen und traumabedingten Schlafmangel, und es wird dabei allen klar, dass man eher zum Streiten neigt, wenn man schlecht geschlafen hat, was bei den Kindern aus der Ukraine zum Teil wohl der Fall ist. Dann führen sie gemeinsam neue Regeln ein, nach der es allen erlaubt ist, jederzeit «stopp» zu sagen, wenn man nicht mitmachen will und das von den Anderen respektiert werden muss. Während Philipp Iseli das Einhalten dieser Regel begleitet und durchsetzt, zeigt er ihnen auch alternative Spiele wie Sprintwettbewerbe, Ballweitwurf, Klettern und Jonglieren, Spiele also, die Bewegung enthalten, aber auch zur Ruhe kommen lassen. Mit der Zeit ändern sich die Gewohnheiten, das bewegliche Ausprobieren scheint sich gelohnt zu haben.

Wenn sich Dinge verändern lassen, dann kann auch die anstrengende und unbefriedigende Resignation aus ihrer Starrheit heraus wieder in mehr Beweglichkeit überführt werden.

Welcher Weg führt da hin?
 

  • Sich mit dem Gefühl des Nichtwissens anfreunden und erleben, dass das Nichtwissen kein Grund sein muss für Unsicherheit, sondern eine Einladung zum Entdecken.


  • Neugierig sein auf Neues, vor allem dort, wo das Gewohnte limitierend wirkt und Potenzial verschenkt.


  • Das Scheitern ist ein Zwischenstand: Wenn etwas nicht funktioniert, braucht es etwas Anderes. Es ist besser, dann nicht immer mehr vom Gleichen zu machen, sondern etwas Neues auszuprobieren. Das Scheitern ist Ehrensache, es ist ein Zeichen dafür, dass man etwas gewagt hat. Wenn sich diese Haltung im Team ausbreitet, ist das für alle eine Erleichterung.

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«Das Lehrerzimmer ist der Spiegel der Schulkultur», ist Rahel Meyer überzeugt. «Was dort geredet wird, ist ein Abbild davon, wie die Schule so tickt». Und sie geht noch einen Schritt weiter und sagt: «Gossiping ist ein Problem. Das ist nicht harmlos.»

Was nach einer etwas kühnen Aussage klingt, hat wohl etwas Wahres, aber auch etwas Tabuisiertes. Kaum je wird darüber gesprochen, wie im Teamzimmer gesprochen wird. Rahel Meyer findet das schade, denn sie macht die Erfahrung, dass ehrliches, aber sorgfältiges Sprechen im Teamzimmer unglaublich hilfreich ist und dass es sich lohnt, darüber ein Teamgespräch zu führen.
 

Als Rahel Meyer vor einigen Jahren neu in ihr Schulhaus kam, gab es dort bereits seit vielen Jahren eine lebhafte und positive Teamkultur. Allerdings erlebten sie dann, dass sich auf einmal ein neuer Ton einschlich. Coronamassnahmen, eigene Erkrankungen und das Übermass an Sorgen und Belastungen hatten alle ermüdet. Der Ton kippte ins Negative, in Schuldzuweisungen und in ein allgemeines Misstrauen, was sich auch darin zeigte, dass vermehrt schlecht über Andere hinter deren Rücken geredet wurde. Als die Idee aufkam, Eltern mit wenig Deutschkenntnissen einen Deutschkurs anzubieten und ihnen gleichzeitig einen Kinderhütedienst zu ermöglichen, meinte jemand an einer Teamsitzung ganz laut und offen: «Das ist ja wieder typisch, für die gibt es wieder Geld und dann kommen sie ja doch nur aus dem einzigen Grund, weil sie ihre Kinder abgeben können.»
 

Vielleicht war es ja gut, dass jemand den Gedanken so offen aussprach, denn das schuf die Gelegenheit, die Entwicklungen zu erkennen. Eine der älteren Teammitglieder sagte: «Früher hätten wir eher gesagt: Prima, das machen wir, dann ist allen geholfen: Uns, den Eltern und den Kindern.» Dieses Team hatte das Glück einer Schulleiterin, die sich unterstützend einschaltete. Als erstes suchte sie nach Möglichkeiten, das Team zu entlasten. Einige anstehende Traktanden wurden verschoben oder gestrichen, sie waren jetzt nicht so wichtig. Ausserdem sorgte sie bestmöglich nach personeller Unterstützung. Danach wagten sie es gemeinsam, über Gossiping zu sprechen und zu vereinbaren, dass sie das so nicht wollten. Über Probleme sollte offen mit den jeweils Betroffenen gesprochen werden. Und auf fremdenfeindliche Kommentare wollten sie sich gegenseitig aufmerksam machen. Sie waren sich bewusst: Üble Nachrede und das Reproduzieren von politisch verbreiteten negativen Parolen ist unprofessionell und wirkt sich unweigerlich negativ auf ihre Schulkultur aus.

Inwiefern ist das eine Spezialisierung?
 

Es ist kein Wunder, dass es sich um ein tabuisiertes Thema handelt: Es ist schwierig darüber sprechen, weil niemand die eigenen Kolleginnen und Kollegen moralisch abwerten möchte. Ausserdem mag es ja hilfreich sein, wenn man einfach einmal für einen Moment «abladen» kann. Wo will ein Team die Grenze ziehen?
 

In Berichten von Lehrpersonen zeigt sich immer wieder, dass die Atmosphäre im Teamzimmer überaus bedeutsam ist und dass allzu viel üble Nachrede – besonders im Migrationskontext – unkommentiert bleibt. Manche Lehrpersonen finden dieses Erleben derart frustrierend, dass sie das Schulhaus wechseln oder sogar aus dem Beruf aussteigen.

Worin besteht die Entlastung?
 

Gossiping ist eine riesige Belastung, weil es viel gutes Potenzial ausbremst. Entsprechend ist es eine riesige Entlastung, sich davon zu befreien.
 

Rahel Meyer erzählt davon, dass sie sich in der Zeit der negativen Gespräche dabei beobachten konnte, wie das Negative auf sie abfärbte: Bestimmte Familien, zu denen sie vorher eine gute Beziehung hatte, sah sie zunehmend mit einem misstrauischen Blick. Und wenn sie es dennoch gewagt hätte, eine gute Beziehung zu ihnen zu pflegen, dann hätte sie riskiert, vor dem Team als eine Art Verräterin dazustehen und ihrem Kollegium gegenüber illoyal zu sein.
 

Auch das Kollegium als Ganzes war ausgebremst: Das gegenseitige Lernen bezog sich immer häufiger auf das gegenseitige Lernen negativer Einstellungen statt auf das gemeinsame Gestalten und Weiterkommen.
 

Was also im Sinn eines «Abladens» wie eine kurzfristige Entlastung scheinen mag, ist langfristig ein massives Ausbremsen auf verschiedensten Ebenen. Wer es rechtzeitig merkt, verlässt das Team und sucht sich ein anderes. Oder das Team findet einen mutigen Weg, darüber zu sprechen, eine andere Kultur zu gestalten und wertvolle Teammitglieder behalten.

 Welcher Weg führt da hin?
 

  • Gossiping zum Stillstand bringen, einfach stoppen, sobald man es bemerkt.


  • Einen behutsamen Weg finden, gemeinsam darüber zu sprechen. Es ist eine berechtigte Befürchtung, dass durch das Thematisieren von Gossiping, fremdenfeindlichem oder gar rassistischem Reden Kolleginnen und Kollegen moralisch abgewertet werden. Es ist daher ratsam, einen sorgfältigen Weg zu wählen, vielleicht mit einer guten externen Moderation.


  • Als Team gemeinsam Entwicklungen initiieren, um wieder darüber zu sprechen, was man gemeinsam will und nicht nur, was man nicht will. Möglich wäre etwa eine gemeinsame Weiterbildung zum Thema «kollektive Selbstwirksamkeit» oder eine Schulvisite und ein Austausch mit einem anderen inspirierenden Team.


  • Belastungen anerkennen und Gefühle ernst nehmen: Schlechte Stimmungen haben oft damit zu tun, dass sich etwas nicht lösen lässt und deshalb Schuldige gesucht werden, um sich von dem schlechten Gefühl zu befreien. Besser ist es, die Gefühle ernst zu nehmen und bestmöglich Lösungen zu finden.

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Wie wäre das, wenn es möglich wäre, eine Quelle für Anerkennung in sich selbst zu finden? Je länger man Sara Nowack zuhört, desto mehr bekommt man den Eindruck, dass das tatsächlich möglich ist.
 

Das Gefühl von Anerkennung ist eines der menschlichen Grundbedürfnisse. Wir brauchen die Anerkennung als geliebte, gleichberechtigte und in unserer Individualität gewürdigte Menschen, um uns wohlfühlen zu können.
 

Lehrpersonen sind diesbezüglich besonders exponiert, weil sie einer Aufgabe nachkommen, bei der sie als ganze Person in ein komplexes Geschehen involviert und dadurch relativ stark von der Anerkennungsdynamik abhängig sind. Das Arbeitsbündnis mit den Schülerinnen und Schülern wie auch die Zusammenarbeit mit Eltern hängt massgeblich davon ab, ob gegenseitige Achtung und Anerkennung besteht. Wenn die Verhältnisse als sehr brüchig erlebt werden, geraten Lehrpersonen aus Sorge um ihre Anerkennung in eine ständige Verteidigungshaltung und sind wegen der latenten Angst in ihrem Handeln limitiert.
 

Sara Nowack kennt das. Als Tochter eines Fabrikarbeiters und einer Schneiderin hat sie nicht jene Art von selbstverständlich sicherer sozialer Positionierung mit auf den Weg bekommen, wie es mitunter Privilegiertere ausstrahlen. Sie kennt das Gefühl der Verunsicherung, wenn ihr ein Vater mit Anzug und Krawatte im Elterngespräch gegenübersitzt oder wenn im Teamzimmer subtil abwertende Bemerkungen über Eingewanderte gemacht werden. Einwanderungsgeschichten gibt es in ihrer Familie auch.
 

Aber wie Frau Nowack damit umgeht, ist bemerkenswert: Die Verunsicherung scheint bei ihr nicht dazu zu führen, dass sie sich davon einschränken lässt, eher im Gegenteil, denn es ist offensichtlich, dass sie diese Erfahrungen pädagogisch nutzen kann: Das Wissen darum, wie es sich anfühlt, in unterprivilegierten Milieus aufzuwachsen, gibt ihr ein feines Gespür für diejenigen Familien, die Ähnliches erleben. Sie findet die richtigen Worte in Elterngesprächen und besitzt eine hohe Glaubwürdigkeit, wenn sie vermittelt, dass man es schaffen und auch höhere Bildungslaufbahnen anstreben kann.
 

So erzählt sie etwa von einer Schülerin, bei der unsicher war, ob sie den Schritt ins Gymnasium wagen sollte oder nicht. Frau Nowack kannte ihre Leistungen und ihre Leistungsfähigkeit gut und hatte den Eindruck, dass sie das kann. Sie setzte sich mit der Schülerin zusammen und zeigte ihr all die vielen Leistungen, die sie erfolgreich erbracht hatte, ausserdem sprach sie mit den Eltern, die selbst einige Zweifel hatten. Auch im Kollegium gab es kritische Stimmen. «Ich kann mich auch irren», meinte Frau Nowack selbstkritisch und auf der Suche nach einer wirklich realistischen Einschätzung, «aber nein ich glaube, sie kann es schaffen.» Mit dieser engagierten Meinung setzt sie sich für ihre Schülerin ein und freut sich zwei Jahre später im Rückblick, dass sich die Entscheidung als eine gute bestätigt: Der Schülerin geht es gut im Gymnasium.
 

Frau Nowack ist trotz ihrer eigenen Vulnerabilität in der Lage, sich sogar gegen Widerstand für ihre Schülerinnen und Schüler einzusetzen und kritische Stimmen für ihre Sichtweise zu gewinnen. Dabei geht es nicht so sehr um sie und ihr Anerkennungsbedürfnis, sondern vielmehr um den Bildungserfolg der Schülerinnen und Schüler.

Inwiefern ist das eine Spezialisierung?
 

Wenn die Sorge um die eigene Anerkennung gross ist und sich über einen längeren Zeitraum erstreckt, wirkt sich das auf das pädagogische Handeln aus. Es ist geprägt und limitiert von dieser Sorge um die eigene Anerkennung.
 

Manche Lehrpersonen weichen dann allen Reibungsmomenten aus, denn Reibungen, Widerstände und Kritik könnten die eigene Anerkennung noch weiter gefährden. Eine Lehrerin erzählt, dass sie die Zusammenarbeit mit den Eltern auf einem Minimum hält, weil sie es nicht gern habe, wenn sich die Eltern in ihre Arbeit einmischten. Ein Lehrer sagt, er halte nicht viel von Unterrichtsformen wie Klassenrat oder Kinderparlament, weil manche Schülerinnen und Schüler dann beginnen würden, die Klassenführung zu übernehmen. Beide diese Lehrperson sind in grosser Sorge um ihre Anerkennung und vermeiden deshalb Situationen, die ihre Position in Frage stellen könnte.
 

Andere Lehrpersonen suchen ebenfalls nach Anerkennung, wählen aber einen anderen Weg, indem sie diesen Situationen nicht ausweichen, sondern – ganz im Gegenteil – die Reibungen in besonderem Mass suchen, etwa durch engagiertes Diskutieren in der Hoffnung, auf diese Weise gehört zu werden. Die Erwartung, auf diesem Weg durch Kolleginnen und Kollegen, Schulleitende, Eltern oder Kinder Bestätigung zu bekommen, ist aber oft eine unrealistische und bleibt unbefriedigend. Das kann derart aufreibend sein, dass diese Lehrpersonen schliesslich enttäuscht in eine Privatschule wechseln oder sogar den Beruf aufgeben.
 

Was macht Sara Nowack anders? Obwohl auch sie das Gefühl von Vulnerabilität gut kennt, geht sie den Widerständen weder aus dem Weg noch sucht sie sie zur eigenen Bestätigung. Ihr geht es nicht um das Überwinden der Verletzlichkeit, sondern um deren Akzeptanz. Sie weiss, dass sie und ihre Anerkennung mit Unsicherheit verbunden ist, und sie ist okay damit. Es scheint, als habe sie sich mit ihrem eigenen Anerkennungsbedürfnis versöhnt.

 
Worin besteht die Entlastung?
 

Lehrpersonen, die sich latent in ihrer Anerkennung gefährdet fühlen, müssen viel Angst bewältigen. Sie müssen all die Unsicherheit aushalten und ständig auf der Hut sein, sich nicht denjenigen Situationen auszusetzen, in denen sie potenziell kritisiert werden. In ihrem pädagogischen Handeln sind sie dadurch unfrei und limitiert. Es ist viel lähmende Angst im Spiel.
 

Sara Nowack hat einen Umgang gefunden, der ihr erlaubt, mit der Realität und ihrer eigenen Verletzlichkeit okay zu sein. Das bedeutet keineswegs, dass sie Verletzungen oder Missachtung gutheissen würde. Vielmehr schafft sie mit ihrer Haltung eine bessere Ausgangslage, um gut darauf reagieren zu können. Sie ist interessiert an den Sichtweisen Anderer und nimmt es weniger persönlich, wenn sie kritisiert wird.
 

Bei Sara Nowack ist weniger angespannte Enge und Angst im Spiel, dafür mehr entspannte Weite und Vertrauen: Vertrauen in sie selbst, in die gemeinsamen Prozesse und in die Sichtweisen anderer Menschen.

Während andere Lehrpersonen manchmal sehr mit ihren eigenen Sorgen beschäftigt sein müssen und sich orientieren an einem «Es geht um mich und meine Anerkennung», scheint Sara Nowack eine Freiheit gefunden zu haben, die ihr erlaubt zu sagen: «Es muss nicht so sehr um mich gehen, ich fühle mich ausreichend anerkannt, ich kenne meinen Wert».

Welcher Weg führt da hin?
 

Kein Weg führt am Anerkennungsbedürfnis vorbei, und niemand kann ständig versöhnt sein mit diesem Bedürfnis. Ausserdem soll mit diesen Überlegungen keineswegs vermittelt werden, wir sollten uns nicht darum bemühen, uns gegenseitig zu anerkennen und für anerkennende Strukturen zu sorgen, insbesondere, wenn wir in leitenden Positionen sind. Es wäre zynisch zu sagen: «Du musst dich nur mit deinem Anerkennungsbedürfnis versöhnen, dann ist alles gut».


Dennoch hat Sara Nowack interessante Umgangsweisen gefunden, die auch für Andere inspirierend sein können:

  • Das eigene Anerkennungsbedürfnis erforschen, seine oft vielfältigen Ursachen ergründen, Worte dafür finden, die damit verbundenen Emotionen fühlen.


  • Anerkennung wahrnehmen: Aus lauter Angst davor, nicht gut genug zu sein, übersehen wir manchmal diejenigen Menschen, die uns unseren Wert spiegeln, indem sie uns wertschätzen. Manchmal übersehen wir auch, was wir alles erfolgreich bewältigt und geleistet haben. Es lohnt sich, sich das immer wieder bewusst vor Augen zu führen.


  • Sich mit dem Anerkennungsbedürfnis versöhnen: Sara Nowack kommt nicht zur Ruhe, indem sie erwartet, dass ihr Anerkennungsbedürfnis vollständig befriedigt wird, sondern indem sie zunächst einmal akzeptiert, dass die Dinge so sind wie sie sind. Sie versucht nicht, ihre Verletzlichkeit zu überwinden, sondern sie akzeptiert ihre Verletzlichkeit und wird dadurch stimmig mit sich selbst.

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Entwicklungswege: Schritt für Schritt zu spannenden Horizonten

Diese sechs beeindruckenden Lehrpersonen sind Inspirationsquellen für Andere. Sie haben pädagogische Orientierungen gefunden, die nicht nur sie selbst in ihrer Professionalisierung weiterbringen, sondern auch ihre Schülerinnen und Schüler in deren Entwicklung und Bildungserfolg.
 

Interessanterweise geraten die Lehrpersonen dadurch nicht in Zustände der heillosen Überlastung, sondern pflegen Haltungen, die mit mehr Leichtigkeit verbunden sind. Es geht also nicht darum, sich weitere Belastungen aufzuladen, sondern mit dem Bestehenden etwas anders umzugehen. Das soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich um einen anspruchsvollen Beruf handelt und dass es Dynamiken von Klassen-, Eltern und Teamgemeinschaften geben kann, die trotz allem sehr belastend sind. Zudem bestehen mitunter strukturelle Probleme im Schulsystem, die sich belastend auswirken können und die nicht durch individuelles Handeln verändert werden können.
 

Vorgestellt wurden sechs unterschiedliche Spezialisierungen, das zeigt auch, dass die Wege vielfältig sind. Nicht alle müssen alles gleich gut können. Aber fast immer ist mehr Potenzial vorhanden als wir denken.
 

Ein Schlüssel scheint dabei die Frage der Anerkennung zu sein: Wenn wir darum in ständiger Sorge sind, ist es schwer, gute Beziehungen einzugehen, einen positiven Grundverdacht zu pflegen, andere Sichtweisen wahrzunehmen, kreativ zu sein und auf Gossiping zu verzichten.
 

Wir kennen es alle, dieses Gefühl, nicht zu genügen und irgendwie nie gut genug zu sein. Sara Nowack weiss: Es ist möglich, sich mit dem eigenen Anerkennungsbedürfnis zu versöhnen, und das ermöglicht ihr eine andere Ausgangslage: Statt eines Bodens der Angst entscheidet sie sich für eine Basis des Vertrauens. Immer wieder. Damit sollten wir wohl beginnen.

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  1. (1) Details in Mantel (i.V.) Lehrpersonen in Schulen der Migrationsgesellschaft: Idealtypische pädagogische Orientierungen und die Bedeutsamkeit des eigenen Anerkennungsempfindens. Journal for Educational Research Online.

    (2) Zugunsten von Datenschutz und Lesbarkeit werden diese sechs Lehrpersonen in einer anonymisierten und illustrierend aufbereiteten Form porträtiert.


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