Lehrpersonen und Schulleitungen wollen all ihren Schülerinnen und Schülern eine gute Bildung ermöglichen. Vorhandene Bildungsbenachteiligungen können sie besser verringern, wenn sie die Mechanismen und Handlungen, die dazu führen, kennen. Im Folgenden definieren wir dazu die zentralsten Begriffe, resümieren einige wichtige Erkenntnisse aus der Forschung und zeigen auf, was an der aktuellen Situation ungerecht ist. Schliesslich erläutern wir Ansätze, die erklären, wie die Benachteiligungen entstehen. Konkrete Ideen für die Praxis finden Sie hier.

Text: Dominique Braun

Schulerfolg

Für das Individuum trägt Bildung entscheidend für seine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben bei. Sie fördert den Zugang zum Arbeitsmarkt und hat einen Einfluss auf die Höhe des Einkommens. Auch die Lebenserwartung, der Wohlstand und eine aktive Lebensgestaltung können steigen, wenn mehr in Bildung investiert wird. Für die Gesellschaft ist Bildung ebenso wichtig: Sie fördert den sozialen Zusammenhalt und ist Grundbedingung für eine funktionierende Demokratie und Wirtschaft.(1) Damit Bildung diese Funktionen für Individuum und Gesellschaft erfüllen kann, muss der Bildungsprozess gelingen. Bezogen auf Individuen sprechen wir im Folgenden von Schulerfolg, wenn sie ihre Leistungspotenziale entfalten und an den für sie passenden Bildungsinstitutionen partizipieren können. Damit verbunden sind die Begriffe von

Bildungschancen und Bildungsbenachteiligungen, Chancengerechtigkeit und Chancengleichheit

Diese Begriffe umschreiben, inwiefern Individuen in einer Gesellschaft Chancen auf dieselben Bildungsabschlüsse – also Schulerfolg – haben, unabhängig von Aspekten wie sozialer Herkunft, natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeiten oder Gender. Diese Aspekte gelten als leistungsfremd. Weisen ganze Personengruppen mit einem oder mehreren solcher Merkmale weniger Bildungsbeteiligung oder tiefere Bildungsabschlüsse auf als andere Gruppen, stellen sich Fragen nach Gerechtigkeit.(2) Hinter den Begriffen «Chancengerechtigkeit» und «Chancengleichheit» stehen denn auch unterschiedliche Konzepte von Gerechtigkeit, die wir hier weiter ausführen. Weil diese Begriffe deshalb unterschiedlich interpretiert werden, verwenden wir im Folgenden die Begriffe «Bildungschancen» und «Bildungsbenachteiligungen». Mit dem Begriff «Bildungschancen» beschreiben wir, inwiefern Individuen und Gruppen Zugang zu Bildungsangeboten haben, an diesen partizipieren können und dabei erfolgreich sein können, unabhängig von Herkunftsmerkmalen.(3) Mit dem Begriff «Bildungsbenachteiligungen» beschreiben wir den Gegensatz dazu. Wir führen damit aus, inwiefern bestimmte Gruppen und Individuen nicht denselben Zugang zu Bildung haben und inwiefern sie ihr Leistungspotenzial weniger erfolgreich umsetzen können als andere. Dies geschieht z.B. dann, wenn ihr Potenzial in der Schule weniger wahrgenommen wird und sie weniger unterstützt werden. Insbesondere ihre soziale Herkunft spielt bei der Benachteiligung eine wichtige Rolle. Allerdings ist es nicht die Herkunft an sich, die entscheidend ist. Vielmehr gelingt es in unserem Bildungssystem zu wenig, auf unterschiedliche Ausgangslagen von Schülerinnen und Schülern zu reagieren, wodurch es dann zu Bildungsbenachteiligungen bzgl. Bildungschancen kommen kann (vgl. dazu Erklärungen ).

Wie Lehrpersonen und Schulleitungen diesen Benachteiligungen entgegenwirken können, haben wir hier beschrieben.

Wie sind die Bildungschancen in der Schweiz verteilt?

Eine gerechte Verteilung von Bildungschancen lässt sich überprüfen, indem wir Lernleistungen und Bildungsabschlüsse von verschiedenen Gruppen untersuchen und vergleichen.

In der Schweiz weisen seit längerer Zeit mehrere Studien darauf hin, dass bestimmte Gruppen von Lernenden weniger Schulerfolg haben als andere. Bildungswege und der Erwerb von Bildungsabschlüssen stehen in einem starken Zusammenhang mit der sozialen Herkunft der Schülerinnen und Schüler. Dabei ist es wichtig, zu verstehen, dass nicht die soziale Herkunft per se z.B. zu einem tieferen Bildungsabschluss führt. Vielmehr sind es Mechanismen und Handlungen aufgrund derer bestimmte Herkunftsgruppen im Bildungsprozess benachteiligt werden (vgl. dazu Erklärungen). Bereits im Jahr 2000 hat die erste PISA-Studie gezeigt, dass in der Schweiz insbesondere die soziale Herkunft stark mit den erreichten Kompetenzwerten zusammenhängt.(4) Nur wenig später stellte eine andere Studie fest, dass die Überweisung von Schülerinnen und Schülern in Kleinklassen für Lernende mit Beeinträchtigungen weniger von ihren Leistungen denn von ihrem Migrationsstatus und ihrem Wohnort abhing.(5) Daran hat sich in den letzten 20 Jahren nicht viel geändert. Der schweizerische Bildungsbericht 2018 hält mit Verweis auf unterschiedliche Studien fest, dass Herkunftsmerkmale und Schulerfolg nach wie vor zusammenhängen. Der sozioökonomische Status, die Bildungsabschlüsse der Eltern, der Migrationsstatus und die zu Hause gesprochene Sprache korrelieren mit dem Zeitpunkt des Eintritts in die Primarschule, mit Übertrittsentscheidungen in eine nächsthöhere Bildungsstufe oder mit Leistungen in vergleichenden Tests. Auch sind verschiedene Herkunftsgruppen von Schülerinnen und Schülern in Schultypen mit unterschiedlichen Anforderungen ungleichmässig verteilt.(6)

In der Schweiz sind die Bildungschancen insbesondere je nach zu Hause gesprochenen Sprachen und sozialer Herkunft ungleich verteilt. Darauf verweisen Ergebnisse ausgewählter Studien.

Die PISA-Studie von 2018 zeigt u.a. einen Zusammenhang zwischen verschiedenen Herkunftsmerkmalen und der Lesekompetenz. Jugendliche erreichen eine geringere Leseleistung, wenn sie zu Hause eine andere Sprache als die Testsprache sprechen und/oder aus sozioökonomisch deprivilegierten Verhältnissen stammen. Der Einfluss bleibt auch bestehen, wenn die Merkmale kombiniert betrachtet werden. Der Einfluss der zu Hause gesprochenen Sprache geht etwas zurück, wenn zusätzlich die Lesemotivation der Jugendlichen und ihr Wissen über Lernstrategien berücksichtigt werden. Das bedeutet, dass diese Aspekte wichtiger sind als die Sprache an sich.(7)

 

Die Überprüfung der Grundkompetenzen (ÜGK) in der Schweiz von 2017 ergibt ein ähnliches Bild. Die Untersuchung analysiert die Grundkompetenzen bzgl. verschiedener sprachlicher Leistungen. Auffallend ist, dass im schweizerischen Durchschnitt ein Anteil von fast 12% der Schülerinnen und Schüler im 8. Schuljahr (inkl. 2 Jahre Kindergarten) die Grundkompetenzen nicht erreicht. Bzgl. der Herkunftsmerkmale zeigt sich eine geringe Korrelation zwischen dem Migrationsstatus und den Lesekompetenzen in der Schulsprache und zwischen der zu Hause gesprochenen Sprache und den Lesekompetenzen. Eine stärkere Korrelation ist zwischen der sozialen Herkunft und den Lesekompetenzen vorhanden. Schülerinnen und Schüler, die der privilegiertesten Gesellschaftsgruppe (oberstes Quartil) angehören, erreichen signifikant häufiger die Grundkompetenzen im Gegensatz zu Schülerinnen und Schülern, die der am wenigsten privilegierten Gesellschaftsgruppe (unterstes Quartil) angehören.(8)

 

Bemerkenswert ist ein Längsschnittergebnis aus kantonalen Leistungstests der Nordwestschweizer Kantone zu den Mathematikkompetenzen.  Auch hier besteht eine Korrelation zwischen zu Hause gesprochener Sprache und erreichten Kompetenzen. Kinder mit Deutsch als Zweitsprache weisen in den Mathematikkompetenzen deutlich geringere Leistungen auf als Kinder mit Deutsch als Erstsprache. Zudem bleiben die Leistungsrückstände von der 3. Klasse bis zur 6. Klasse ungefähr konstant. Das heisst, beide Gruppen machen in etwa dieselben Leistungsfortschritte.(9) Das Ergebnis deutet darauf hin, dass es der Schule in diesem Fall nicht gelingt, Kinder mit Deutsch als Zweitsprache so zu fördern, dass sie den Leistungsrückstand aufholen können.

 

Relevant für individuelle Bildungswege und letztlich erreichte Bildungsabschlüsse sind der Eintritt ins Bildungssystem und die Übertritte zwischen den Bildungsstufen. Auch für diese entscheidenden Momente sind verschiedene Hinweise auf Bildungsbenachteiligungen bestimmter Gruppen vorhanden:

 

Untersuchungen aus dem Kanton Zürich zeigen beispielsweise, dass Kinder nicht-deutscher Erstsprache und aus deprivilegierten Verhältnissen beim Kindergarteneintritt eher zurückgestellt werden als andere Kinder. Gesamtschweizerische Daten verweisen auf dasselbe Phänomen: 22% der Kinder nicht-deutscher Erstsprache besuchen die 1. Klasse verzögert. Bei Kindern mit Erstsprache Deutsch gilt dies nur für 17%.(10)

 

Beim Übertritt in die Sekundarstufe I ist die Wahrscheinlichkeit, in eine Abteilung der Sekundarschule mit erweiterten Anforderungen oder ins Gymnasium überzutreten, für Kinder aus Akademikerfamilien viermal höher als für Kinder von Eltern mit einem niedrigen Bildungsabschluss.(11) Auch beim Übertritt in die Sekundarstufe II spielt die sozioökonomische Herkunft eine wichtige Rolle. Die Wahrscheinlichkeit, dass leistungsstarke Schülerinnen und Schüler aus deprivilegierten Verhältnissen an ein Gymnasium übertreten, ist nur halb so gross wie für Jugendliche aus privilegierten Verhältnissen. Hingegen kommen Jugendliche, die eher tiefe Leistungen erreichen und trotzdem an ein Gymnasium übertreten können, meist aus privilegierten Verhältnissen.(12)

 

Die bisher beschriebenen Ergebnisse zeigen einen Zusammenhang zwischen individueller Herkunft und individueller Leistung oder individuellem Bildungsweg. Zusätzlich besteht auf Schulebene ein Zusammenhang zwischen der Schülerschaft (kollektive Herkunft) und der individuellen Leistung. Dies beschreibt der sogenannte Kompositionseffekt. Er besagt, dass die sprachliche und soziale Herkunft der Gesamtgruppe einen positiven oder negativen Effekt auf die individuelle Leistung haben kann. Setzt sich die Schülerschaft aus vielen Schülerinnen und Schülern aus deprivilegierten Verhältnissen und/oder mit einer anderen Erstsprache als Deutsch zusammen, besteht ein tendenziell negativer Zusammenhang zur individuellen Leistung. Ist dieser Anteil der Schülerinnen und Schüler hingegen tief, zeigen die Lernenden eher höhere Leistungen, unabhängig ihrer individuellen Herkunft. Empirische Untersuchungen stellen diesen Effekt ab einem Anteil von 30 bis 40 Prozent fest. In der Schweiz ist der Kompositionseffekt sehr ausgeprägt vorhanden.(13) Für Schülerinnen und Schüler aus deprivilegierten Verhältnissen bedeutet er eine doppelte Benachteiligung. Einmal kann ihre Herkunft benachteiligend sein und einmal die Zusammensetzung der Schülerschaft an ihrer Schule.

Wichtig ist, dass der Kompositionseffekt nicht einen direkten und nicht-korrigierbaren Zusammenhang darstellt. Studien zeigen, dass schulische Praktiken, z.B. qualitativ guter Unterricht, in Schulen mit einem hohen Anteil von Schülerinnen und Schülern aus deprivilegierten Verhältnissen einen signifikanten Einfluss auf deren Lernzuwachs hat. (14) Damit Schulleitungen und Lehrpersonen den Lernzuwachs steigern können, müssen sie wissen, weshalb es zu den Benachteiligungen kommt (vgl. Erklärungen) und wie sie diese vermindern können (vgl. Ideen zu Schulerfolg).

Unterschiedlicher Schulerfolg – Was ist daran ungerecht?

Der ungleiche Zugang zu Bildungswegen und Bildungsabschlüssen ist problematisch. Dies, weil Schulerfolg nicht ausschliesslich Resultat individueller Leistung ist. Und weil es nicht für alle Schülerinnen und Schüler gleichermassen möglich ist, ihre Leistung zu zeigen und ihr Leistungspotenzial auszuschöpfen. Dies erfolgt z.B. dann, wenn die Schule Lernende in spezifischen Bereichen zu wenig fördert oder wenn sie erbrachte Leistung nicht als solche anerkennt. Ungleiche Bildungschancen widersprechen somit dem Grundgedanken der Volksschule.(15)

Unsere Vorstellungen von Gerechtigkeit beeinflussen, ob wir eine vorhandene Ungleichheit als gerecht oder als ungerecht empfinden. In diesen Vorstellungen kommen jeweils unterschiedliche Konzepte von Gerechtigkeit zum Ausdruck.

Meritokratisches Prinzip

Gemäss dem meritokratischen Prinzip sind ausschliesslich Begabung und Anstrengung eines Individuums für die Aussicht auf Erfolg, z.B. auf einen bestimmten Bildungsabschluss, entscheidend. Keine Rolle spielen dürfen die soziale Herkunft und/oder natio- ethno-kulturelle Zugehörigkeiten. Der Erfolg sollte somit von leistungsfremden Aspekten statistisch unabhängig sein.(16) Würde dieses Ideal erreicht, wäre eine formale Chancengleichheit gegeben.(17) Allerdings gilt ungleicher Erfolg aus dieser Perspektive als legitim, wenn er aufgrund ungleicher Begabungen und ungleicher Anstrengungen zustande kommt.

Unberücksichtigt bleiben beim meritokratischen Prinzip daher mehrere Aspekte, die Fragen bzgl. Gerechtigkeit aufwerfen:

  • Begabung und Anstrengung sind nicht ausschliesslich individuelle und objektive Merkmale, die sich nicht verändern können. Inwiefern beispielsweise anerkannt wird, dass und wofür sich jemand anstrengt, hängt stark von gesellschaftlichen Vorstellungen, Normen und Verhältnissen ab. Diese beeinflussen auch, was gesellschaftlich als Begabung oder als Ressource betrachtet wird.(18) Gilt Mehrsprachigkeit z.B. per se als Ressource oder hängt dies davon ab, welche Sprachen jemand spricht? Dies gilt auch in der Schule. Schulische Normen beeinflussen, wie und ob Lehrpersonen und Schulleitungen Anstrengungen, Begabungen und Ressourcen wahrnehmen und bewerten. Dies wiederum hat Einfluss auf ihr Handeln, z.B. wie und welche Ressourcen sie unterstützen.

  • Der Bildungsprozess an sich und damit auch Prozesse in der Schule spielen eine Rolle inwiefern Lernende Schulerfolg erlangen. So kommt es in der Schule z.B. immer wieder zu Situationen, die eine Ungleichbehandlung erfordern, um jeder Schülerin und jedem Schüler gerecht zu werden.(19) Eine Schülerin, die ins Gymnasium möchte und von ihren Eltern allenfalls nicht in allen Bereichen unterstützt werden kann, ist beispielsweise stärker auf die Unterstützung ihrer Lehrperson angewiesen als ein Schüler, dessen Eltern unterstützen können.

  • Die Schule setzt z.T. Kompetenzen voraus, die Lernende brauchen, um Schulerfolg zu erlangen. Verfügen sie nicht über diese Kompetenzen, müssten sie sie in der Schule erlernen können, um erfolgreich zu sein (vgl. dazu Erklärungen)

Die Verantwortung der Schule und die Frage, was denn Lehrpersonen und Schulleitungen für erweiterte Bildungschancen beitragen könnten, bleiben mit Bezug zum meritokratischen Prinzip daher weitgehend unberücksichtigt.

 

Befähigungsansatz

Eine andere Perspektive nimmt der Gerechtigkeitsansatz der Befähigung (engl. capability approach) ein. Er fokussiert auf die Chancen, ein Leben in Würde oder ein gelingendes Leben zu führen. Es geht um die realen Möglichkeiten, über die ein Mensch verfügt, um ein solches Leben zu verwirklichen. Und es geht um die Befähigungen (capabilities), die vorhandenen Möglichkeiten wahrnehmen und sich für sie entscheiden zu können. Damit verknüpft ist auch die Frage nach Freiheit. Diese wird umso grösser, je vielfältiger und weiter der vorhandene Möglichkeitsraum ist.(20) In Bezug auf Bildungschancen geht es aus der Perspektive dieses Ansatzes nicht zwingend um die gleiche Chance auf einen konkreten Bildungsabschluss. Zentral ist, dass Lehrpersonen und Schulleitungen die Möglichkeitsräume der Schülerinnen und Schüler erweitern und sie dazu befähigen, die gewählten Möglichkeiten tatsächlich wahrnehmen zu können.

Erklärungen

Bildungsbenachteiligungen stehen mit bestimmten Herkunftsmerkmalen in Zusammenhang. Sie entstehen auf vielfältige Weise und an verschiedenen Orten. In der Bildungswissenschaft herrscht weitgehend Einigkeit, dass Selektionsentscheidungen in diesem Zusammenhang eine besonders wichtige Rolle spielen. Bezogen auf die deutschsprachigen Länder kommt hinzu, dass die Selektion – verglichen mit anderen Ländern – sehr früh erfolgt. Wie aber kommt es zu diesen Benachteiligungen? Und v.a., wie können Schulleitungen und Lehrpersonen sie verringern? Es sei an dieser Stelle vorweggenommen, dass hinter den Effekten keine bewussten und diskriminierenden Absichten stecken. Lehrpersonen beurteilen und selektionieren Schülerinnen und Schüler bei gleicher Leistung nicht absichtlich unterschiedlich aufgrund deren Herkunft. Sie übersehen das vorhandene Potenzial nicht willentlich. Dass es trotzdem dazu kommt, ist auf unbewusste Handlungen und auf Mechanismen innerhalb bestehender Strukturen zurückzuführen. Wollen Lehrpersonen und Schulleitungen daran etwas ändern, müssen sie diese Mechanismen kennen. Denn Lehrpersonen haben mit ihrem Handeln durchaus Einfluss und können zu positiven biografischen Schlüsselfiguren werden.(21)

Bildungsbenachteiligungen kommen aufgrund unbewusster Handlungen und struktureller Mechanismen zustande. Sind sich Lehrpersonen und Schulleitungen darüber bewusst, können sie sie eher verringern. Verschiedene Erklärungsansätze helfen, die Mechanismen zu verstehen. Im Folgenden erläutern wir die wichtigsten Ansätze und konkretisieren sie mit empirischen Erkenntnissen.

Die ausgewählten Ansätze unterscheiden sich darin, ob sie auf der individuellen Ebene oder auf der strukturellen Ebene argumentieren oder ob sie diese Ebenen verbinden. Weiter unterscheiden sie sich darin, ob sie eher auf die Gesellschaft oder eher auf die Schule fokussieren. Im ersten Fall untersuchen sie, wie die Schule gesellschaftliche Ungleichheiten reproduziert. Im zweiten Fall, wie die Schule selbst Ungleichheiten produziert oder verstärkt.

Überblick theoretische Ansätze zur Erklärung von ungleichen Bildungschancen. Eigene Darstellung Dominique Braun
Überblick theoretische Ansätze zur Erklärung von ungleichen Bildungschancen. Eigene Darstellung Dominique Braun

Im Zentrum der Erklärungen stehen Ressourcen der Schülerinnen und Schüler sowie deren Eltern, Entscheidungen aller Akteurinnen und Akteure, Erwartungen, institutionalisierte Regelungen, Zuschreibungen und Stereotypisierung. Die einzelnen Ansätze gewichten diese Aspekte jeweils unterschiedlich. Im Folgenden beschreiben wir diejenigen Ansätze, aus denen wir am ehesten Handlungsmöglichkeiten für Schulleitungen und Lehrpersonen ableiten können.

 

Pygmalioneffekt und Zuschreibungen

Lehrpersonen und Schulleitungen können anhand dieses Ansatzes erkennen, wie wirksam ihre Erwartungen sind und wie diese von Zuschreibungen geprägt werden. Sie können sich die daraus resultierenden Handlungen bewusster machen und dadurch ein Stück weit verändern. 

 

Der Pygmalioneffekt bezieht sich auf Pygmalion, eine Figur der griechischen Mythologie, die die Wirklichkeit durch ihre Vorstellungskraft beeinflussen konnte. Im Kontext von Bildungschancen beschreibt der Effekt, wie Lehrpersonen die Leistungen ihrer Schülerinnen und Schüler (Wirklichkeit) durch ihre Erwartungen (Vorstellungskraft) im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung möglicherweise positiv oder negativ beeinflussen. Man spricht daher auch vom Erwartungseffekt. Das heisst konkret, dass hohe Leistungserwartungen von Lehrpersonen zu höheren Leistungen der Schülerinnen und Schüler führen bzw. einen positiven Effekt auf ihre individuellen Entscheidungen im Bildungsverlauf haben.

 

Empirisch belegt ist der Pygmalioneffekt z.B. hinsichtlich des sozio-emotionalen Klimas innerhalb eines Klassenzimmers. Dieses Klima, das für Schulleistungen massgebend ist, wird von mehreren Faktoren beeinflusst. Dazu gehört die negative oder positive Grundhaltung der Lehrpersonen ihren Schülerinnen und Schülern gegenüber, die sie auch über nonverbale Kommunikation vermitteln. Auch Inputs in Form von fordernden oder nicht-fordernden Aufgaben sowie Möglichkeiten für Schülerinnen und Schüler, sich zu beteiligen, haben einen möglichen Einfluss. Schliesslich können Feedbacks von Lehrpersonen, sei es Lob oder Kritik bzw. Wertschätzung oder Ignorieren von Beiträgen, ebenfalls eine Rolle spielen.(22) Haben Lehrpersonen hohe und erfüllbare Erwartungen, geben sie ihren Schülerinnen und Schülern vermutlich eher ein lernförderliches Feedback, das diese auch umsetzen können.(23)

 

Die beschriebenen Erwartungen können von gesellschaftlichen Vorstellungen, insbesondere von sozialen Stereotypisierungen, geprägt sein. Stereotypisierungen sind bestimmte Wahrnehmungen und Vorstellungen, die einzelne Individuen oder Teile der Gesellschaft einer spezifischen Gruppe zuschreiben. Die Zuschreibenden beziehen sich dabei oft auf die soziale oder natio-ethno-kulturelle Herkunft einer Gruppe. Die angenommene Eigenschaft schreiben sie der gesamten Gruppe zu, beispielsweise dass Kinder mit Migrationshintergrund viel zu viel gamen würden. Das eigene Handeln und das Handeln anderer Personen setzen sie in Bezug zu ihren eigenen Normalitätsvorstellungen. Dadurch nehmen sie das Andere als tendenziell abweichend wahr. Sie hinterfragen dabei nicht, ob das zugeschriebene Merkmal die Gruppe adäquat beschreibt und ob es auf alle Gruppenmitglieder zutrifft. Und sie hinterfragen auch nicht, inwieweit das beobachtete Verhalten ebenfalls legitim ist (vgl. dazu Hintergrundinformationen Diversität).

Stereotypisierungen können zu Herkunftseffekten führen. In Bezug auf den Pygmalioneffekt wird angenommen, dass Stereotypisierungen bzgl. der Herkunft die Erwartungen von Lehrpersonen beeinflussen und verzerren. Das bedeutet, dass Lehrpersonen Schülerinnen und Schüler aus deprivilegierten Verhältnissen möglicherweise eher mit schwacher Leistung in Verbindung bringen. Die tiefere Leistungserwartung zieht evtl. ein wenig lernförderliches Feedback nach sich, was wiederum einen negativen Effekt auf die tatsächliche Leistung haben kann.(24)

Dass Stereotypisierungen auch direkt wirken können, zeigt eine Studie aus Deutschland. Diese prüfte den Wortschatzzuwachs bei Schülerinnen und Schülern aus der vierten Grundschulklasse, die zu Hause (auch) eine andere Sprache als Deutsch sprechen. Unmittelbar vor der Lernphase erhielt eine Gruppe Lernender eine explizite Stereotypenbedrohung. Es handelte sich um den Hinweis, dass Kinder, die zu Hause (auch) eine andere Sprache als Deutsch sprechen, häufig Schwierigkeiten beim Erlernen neuer Wörter hätten. Eine andere Gruppe erhielt eine implizite Stereotypenbedrohung. Sie mussten Fragen zum Sprachgebrauch und zur Herkunft der Eltern beantworten. Die dritte Gruppe erhielt keine Stereotypenbedrohung (Kontrollgruppe). Die drei Gruppen unterschieden sich hinsichtlich der Wortschatzerweiterung signifikant. Die Gruppe mit der expliziten Bedrohung erweiterte den Wortschatz am wenigsten, die Kontrollgruppe am stärksten. Die beiden Gruppen mit einer Bedrohung zeigten keinen signifikanten Unterschied. Dies deutet darauf hin, dass sich die Kinder über gesellschaftliche Stereotypen bewusst waren und diese wirkten, sobald sie an ihre Herkunft erinnert wurden.(25)  

 

Zum Zusammenspiel von Pygmalion- und Herkunftseffekten liegt bisher wenig Forschung vor.(26) Umso interessanter sind die Ergebnisse einer aktuellen Studie aus der Schweiz:

 

Niederbacher und Neuenschwander stellen in einer quantitativen Analyse von Daten zu Schülerinnen und Schülern, deren Eltern und Lehrpersonen fest, dass ein Zusammenhang zwischen elterlichem Bildungsniveau und den Leistungen der Kinder in den Fächern Deutsch und Mathematik besteht. Dieser hängt u.a. mit den Erwartungen der Lehrpersonen zusammen. Das heisst, je nach Herkunft der Kinder haben Lehrpersonen andere Erwartungen an sie, was die tatsächlichen Leistungen der Kinder beeinflusst. Im Fach Deutsch ist ein zusätzlicher Effekt zu beobachten: Die Lehrpersonen haben auch unterschiedliche Erwartungen, je nachdem wie stark die Eltern selbst davon ausgehen, dass sie ihre Kinder beim Lernen wirksam unterstützen können (elterlicher Selbstwirksamkeitsüberzeugung). Die unterschiedlichen Erwartungen beeinflussen auch hier die Leistungen der Schülerinnen und Schüler.(27)

 

Überdies zeigt sich, dass Lehrpersonen tiefere Leistungserwartungen an Schülerinnen und Schüler mit einer anderen Erstsprache als Deutsch haben. Auch hier beeinflusst die geringere Selbstwirksamkeitsüberzeugung von Eltern die Leistungserwartung der Lehrpersonen im Fach Deutsch. Dies äusserst sich letztlich in tieferen Leistungen der Lernenden mit einer anderen Erstsprache als Deutsch.(28)

Institutionelle Diskriminierung

Der folgende Ansatz zeigt Lehrpersonen und Schulleitungen auf, welche Regelungen und Entscheidungen zu Bildungsbenachteiligungen beitragen können. Auch wenn viele davon strukturell vorhanden sind, können sich Lehrpersonen und Schulleitungen ihrer Handlungsspielräume bewusst werden und sich überlegen, wie sie diese nutzen können.

 

Gomolla und Radtke – die den Ansatz insbesondere für die Organisation Schule beschreiben – argumentieren auf der strukturellen Ebene. Bildungsbenachteiligungen entstehen innerhalb der Schule auf der Basis von Normalitätsvorstellungen, die kaum hinterfragt werden. Diese Vorstellungen bilden sich in bewährten Regelungen und Entscheidungen ab. Sie sind institutionalisiert. Zum Ausdruck kommen die Regelungen und Entscheidungen in Routinen, Vorgaben, Erwartungen und Argumentationen. Sie dienen hauptsächlich dem reibungslosen Ablauf der Schule. Abweichungen von der Normalität und damit Störungen sollen möglichst vermieden werden. Letztlich geht es um die Frage, wer innerhalb der Organisation Schule als legitimes Mitglied gilt und wer nicht.

Wenn Regeln befolgt und Entscheidungen gefällt werden, geschieht dies ohne diskriminierende Absicht. Manchmal stecken sogar explizit gute Absichten dahinter. Für einige Schülerinnen und Schüler können sie dennoch diskriminierend sein. Dies geschieht dann, wenn die Regelungen und Entscheidungen ungleiche Wirkungen auf die Schülerinnen und Schüler haben, die ungleiche Wirkung aufgrund von Herkunftsmerkmalen mit Sinn ausgestattet wird und es sich in Bezug auf die Herkunft um ein Kollektivmerkmal handelt. Diese Kollektivmerkmale sind meist soziale Stereotypisierungen, z.B. die Annahme, dass Eltern mit Migrationshintergrund ihre Kinder nicht unterstützen könnten.(29)

 

Konkrete Beispiele für institutionelle Diskriminierung sind:

  • Der frühe Selektionszeitpunkt im Schweizer Schulsystem, der in der Forschung als negativer Einfluss auf Bildungschancen gilt, weil sich mehrere Selektionsmomente über die Zeit kumulieren.(30) Der frühe Selektionszeitpunkt kann auch dazu führen, dass Lernende mit Deutsch als Zweitsprache zu wenig Zeit haben, um ihre Deutschkenntnisse für ein anspruchshohes Leistungsniveau zu festigen. Oder die frühe Selektion in ein leistungstieferes Niveau kann sich negativ auf die Lernmotivation auswirken.

  • Die Normalitätsvorstellung, dass Kinder und Jugendliche einsprachig aufwachsen, ihre Mehrsprachigkeit entsprechend nicht als Ressource gilt und die Förderung und Anerkennung der verschiedenen Erstsprachen in den Schulen folglich zu kurz kommt (vgl. Hintergrundinformationen Mehrsprachigkeit).

  • Die Zuschreibung stereotyper Eigenschaften, z.B. dass sich weniger privilegierte Eltern wenig für das schulische Lernen ihrer Kinder interessieren.(31)

 

Gomolla und Radtke unterscheiden in indirekte Diskriminierung und direkte Diskriminierung.

 

Indirekte Diskriminierung liegt dann vor, wenn Ungleiche gleichbehandelt werden(32):

  • Die Schule erwartet beispielsweise, dass Kinder mit deutschsprachlichen Kompetenzen in die Schule eintreten. Erfüllen Kinder diese Normalitätsvorstellung nicht, erhalten sie zwar Unterricht in Deutsch als Zweitsprache (DaZ). Möglicherweise reichen die zur Verfügung stehenden Lektionen aber nicht für alle Kinder aus. Mit anderen Normalitätsvorstellungen könnten die Verantwortlichen den DaZ-Unterricht intensiver und umfassender anbieten.

  • Eine Schule behandelt alle Eltern gleich, indem sie allen Eltern dieselben Informationen zum Schulsystem zukommen lässt. Unterschiedliche Eltern benötigen aber evtl. unterschiedliche Informationen, damit sie adäquat für ihre Kinder entscheiden können.

  • Jugendliche, die noch nicht lange in der Schweiz sind, werden beim Übertritt gemäss aktueller (Sprach)Leistungen selektioniert. Ihr tatsächliches Potential bleibt dabei möglicherweise unberücksichtigt.

 

Direkte Diskriminierung liegt hingegen vor, wenn Gleiche ungleich behandelt werden(33):

  • Eine Lehrperson rät z.B. leistungsstarken Kindern mit einem sogenannten Migrationshintergrund oder aus deprivilegierten Verhältnissen vom Besuch des Gymnasiums ab, mit der Begründung, dass ein sicheres Sprachgefühl fehle oder dass die Eltern zu wenig Unterstützung bieten könnten.

  • Lehrpersonen unterschätzen Kinder einer bestimmten Herkunftsgruppe systematisch in ihren Leistungen (vgl. Pygmalioneffekt weiter oben).

 

Wichtig ist zu beachten, dass die Benachteiligung in beiden Fällen durch institutionalisierte, bewährte und pragmatische Praktiken entsteht und nicht durch persönliche und diskriminierende Absichten. Die Einschätzung einer Lehrperson bzgl. des mühevollen Gymnasiumbesuchs mag durchaus zutreffen. Trotzdem schränkt sie die Bildungschancen der Betroffenen mit ihrer Argumentation ein.

 

Empirisch werden die diskriminierenden Mechanismen v.a. in Situationen festgestellt, in denen das eigene Handeln legitimiert werden muss. So treffen Lehrpersonen beispielsweise Selektionsentscheidungen prinzipiell aufgrund von Leistungen der Schülerinnen und Schüler und unabhängig von kulturellen Merkmalen. Sind die Übergangsentscheidungen aber nicht eindeutig, begründen und legitimieren Lehrpersonen sie durchaus mit ethnisierenden Zuschreibungen.(34)

 

«Kulturalistische Problembeschreibungen werden dann als Ressource im Prozess des Organisierens benutzt, wenn sie die Organisation in ihren Absichten bestärken. Kulturalistische oder gar rassistische Motive sind aber nicht selbst der Auslöser für Entscheidungen (…)» (Gomolla und Radtke 2009, S. 270).

 

Eine weitere Studie aus der Schweiz liefert u.a. aufschlussreiche Ergebnisse zu den Prozessen der Wahrnehmung und Zuschreibung. Hofstetter (35) stellt in seiner Studie zu sozialer Selektivität beim Übertritt in die Sekundarstufe I im Kanton Freiburg u.a. fest, dass bei Schülerinnen und Schülern, die nicht klar einem Leistungsniveau zugeteilt werden können, letztlich organisatorische Aspekte wie die Klassengrösse für die Zuteilung relevant werden können. Weiter zeigt er, dass die soziale und natio-ethno-kulturelle Herkunft der Schülerinnen und Schüler bei den Entscheidungen zum Übertritt eine zentrale Rolle spielt. Lehrpersonen nehmen ihre Schülerinnen und Schüler und deren Eltern – teilweise zu einem frühen Zeitpunkt – je nach Herkunft unterschiedlich wahr. Dies kann schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt in der Bildungslaufbahn erfolgen, z.B. im Kindergarten. Hofstetter spricht auch von «Protoselektion». Auch aufgrund dieser Wahrnehmungen unterstützen und fördern Lehrpersonen ihre Schülerinnen und Schüler unterschiedlich und teilen sie unterschiedlichen Niveaus zu. Bemerkenswert ist, dass die Lehrpersonen bei einer angenommenen fehlenden Unterstützung durch die Eltern das betreffende Kind nicht intensiver unterstützen, sondern damit ihren Verzicht auf eine eigene Unterstützung legitimieren. Die Studie beleuchtet die Situation im deutschsprachigen Teil des Kantons Freiburg, dessen Übertrittsverfahren nach möglichst objektiven und wissenschaftlich begründbaren Kriterien entwickelt wurde. Wenn sogar dieses elaborierte Verfahren zu Bildungsbenachteiligungen führen kann, ist davon auszugehen, dass diese Mechanismen auch in Verfahren anderer Kantone zu finden wären.

 

Zur institutionellen Diskriminierung gehört auch struktureller Rassismus. Interessanterweise sind Lehrpersonen offensichtlichem Rassismus gegenüber sehr aufmerksam, strukturellen Rassismus – insbesondere im eigenen Verantwortungsbereich – unterschätzen sie aber.(36) So reagieren vermutlich viele Lehrpersonen sehr direkt, wenn ein Kind einem anderen Kind die Hand nicht geben will und sie vermuten, dass dies mit dessen Hautfarbe zu tun hat. Oder sie haben zumindest das Gefühl, sie müssten reagieren. Dass aber die oben beschriebenen Beispiele auch eine Form von Rassismus bedeuten können, realisieren sie weniger.


Habitus und Passungsverhältnisse

Kinder bringen von zu Hause Kompetenzen, Wissen und Verhalten in die Schule mit. Nicht immer entsprechen sie damit den impliziten und expliziten Erwartungen der Schule. Eine gute Passung zwischen Schule und Elternhaus ist aber Voraussetzung für gelingendes Lernen und Schulerfolg. Schulleitungen und Lehrpersonen können aus dem hier beschriebenen Ansatz ableiten, wie wichtig es ist, eine möglichst gute Passung zu erarbeiten. 

 

Zentral ist bei diesem Ansatz das Konzept des Habitus. Der Habitus ist Ausdruck unseres Verhaltens und unserer Handlungen. Er zeigt sich z.B. in unserem Kleiderstil, unseren Essgewohnheiten, unserem Musikgeschmack oder Sprachgebrauch. Der Habitus basiert auf unbewussten Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsmustern. Diese Muster entstehen aufgrund von Wissen, Werten, Einstellungen, Denkweisen etc. und sind uns verinnerlicht.(37) Der Habitus eines Individuums entwickelt sich – so die Annahme – je nach Position dieses Individuums in der Gesellschaft unterschiedlich. Und je nach Habitus verfügt jemand auch über mehr oder weniger Variationsmöglichkeiten bestimmter Verhaltensweisen. So kennt ein Kind beispielsweise hauptsächlich die Sprache der Peers, die auf dem Pausenplatz sehr nützlich sein kann. Im Klassenzimmer erwartet die Lehrperson hingegen eine andere Sprache. Kann dieses Kind seinen Sprachgebrauch nun nicht verändern, wird es von der Lehrperson möglicherweise anders wahrgenommen und beurteilt als ein Kind, das neben der Sprache der Peers auch über die im Klassenzimmer erwartete Sprache verfügt.  

 

Das Konzept des Habitus geht auf die Gesellschaftsanalysen von Bourdieu zurück.(38) Bourdieus Gesellschaftsmodell ist stark vertikal geprägt (untere Klasse, mittlere Klasse, herrschende Klasse) und beschreibt insbesondere klassenspezifische Differenzen. Diese Dreiteilung wird inzwischen kritisiert, weil die Gesellschaft einiges komplexer sei. So würden z.B. Kategorisierungen wie Gender oder migrationsbezogene Herkunft und ein entsprechend geprägter Habitus nicht berücksichtigt.

 

Der Milieuansatz und der Lebensstilansatz haben die vertikale Perspektive Bourdieus erweitert und auch horizontale Unterschiede in der Gesellschaft berücksichtigt. Sie beziehen z.B. auch das Freizeitverhalten und politische Einstellungen mit ein. Damit können Zugehörigkeiten in komplexen Gesellschaften adäquater beschrieben werden.(39) Der Habitus spielt auch im Milieuansatz eine wichtige Rolle. Er wird geprägt durch das Milieu, dem ein Individuum angehört. Kategorisierungen wie z.B. Gender, Alter und Migrationsstatus bleiben aber auch bei diesen Ansätzen weitgehend unberücksichtigt. Auch können biographische Veränderungen sowie Bildungsaufstiege nur wenig erklärt werden.

 

Der Ansatz des Habitus eignet sich jedoch, um die Passung von Schule und Kind in den Blick zu nehmen. Konkret geht es um den Habitus, der in der Schule verlangt wird, und den Habitus, den ein Kind aus seinem Elternhaus mitbringt. Dabei wird von folgenden Punkten ausgegangen:

  • Einige Kinder weisen einen Habitus auf, der besser zum von der Schule erwarteten Habitus passt als derjenige von anderen Kindern. Dies aufgrund ihres Verhaltens, ihrer Gewohnheiten, ihres Sprachgebrauchs etc. Dazu gehört z.B., ob ein Kind bildungssprachliche Kompetenzen in die Schule mitbringt oder nicht. Verfügt es über diese Kompetenzen, weiss es beispielsweise wie eine Geschichte aufgebaut ist oder wie man ein Argument formuliert.

  • Eine fehlende Passung kann dazu führen, dass Kompetenzen und Interessen von Kindern aus deprivilegierten Verhältnissen nicht wahrgenommen oder abgewertet werden.(40)

  • Wenn die Passung von Schule und Elternhaus gering ist oder gar fehlt, können die Kinder und Eltern Stereotypsierungen erfahren. Sie vertreten dann in dieser Wahrnehmung ausschliesslich eine spezifische Gruppe (z.B. Bildungsferne) mit spezifischen Eigenschaften.


Auch bei Passungsverhältnissen spielen also Normalitätsvorstellungen und Zuschreibungen eine Rolle. Wie bzgl. der institutionellen Diskriminierung erfolgen diese Prozesse wohl mehrheitlich unbewusst.

Neuere Studien, die den Milieu-Ansatz mit dem Konzept des Habitus kombinieren, stellen fest, dass der von der Schule geforderte «Schülerhabitus» unterschiedlich zu verschiedenen Milieus passt. Inwiefern eine Passung vorhanden ist, hängt auch von der jeweiligen Schulkultur ab. So kann eine bestimmte Schulkultur ein hohes Passungsverhältnis zu einem einzigen Milieu aufweisen. Eine andere Schulkultur kann so ausgeprägt sein, dass sie offener und entsprechend weniger milieuspezifisch gestaltet ist. Je nach Passung eröffnen bzw. erschweren die verschiedenen Schulkulturen den Kindern und Jugendlichen Zugang zu Bildung und Schulerfolg. Allerdings ist die Passung nicht statisch und unveränderlich. Im biographischen Verlauf kann die (Nicht-)Passung fortbestehen oder sich transformieren.(41) 

 

Weitere Studien zeigen, dass die soziale Herkunft der Lehrpersonen und deren eigener Habitus ebenfalls eine Rolle spielt. Lehrpersonen gehören zwar unterschiedlichen aber eher mittleren und gehobeneren Milieus an und erwarten somit z.B. Leistungsbereitschaft, Eigenverantwortung und Selbstdisziplin von den Schülerinnen und Schülern. Insbesondere der Leistungshabitus von Lehrpersonen ist sehr ausgeprägt, weshalb sie beispielsweise wenig auf als phlegmatisch wahrgenommene Kinder eingehen können.(42)

 

Kritisiert wird die Schule aus der Perspektive des Habituskonzepts u.a. darin, dass sie mit ihren Erwartungen und Angeboten hauptsächlich auf Kinder fokussiert, die aus privilegierten Verhältnissen kommen. Möchte eine Schule Bildungsbenachteiligungen vermindern, müsste sie mehr Passung zu Kindern aus deprivilegierten Verhältnissen erreichen. Sie könnte z.B. Kinder in der Schule aktiv unterstützen, einen Zugang zu Büchern zu entwickeln. Oder sie gewährt Jugendlichen, die ins Gymnasium möchten und aus deprivilegierten Verhältnissen kommen, zusätzliche Unterstützung. Diese Unterstützung unterscheidet sich möglicherweise von der Unterstützung anderer Jugendlicher, weil die fehlende Passung etwas Anderes verlangt. Sie würde auch Arbeits-, Lern- und Organisationsstrategien vermitteln – wichtige Kompetenzen, wenn Jugendliche im Gymnasium bestehen wollen (vgl. Idee Mentoringprojekte).

 

In Bezug auf die erläuterten Mechanismen der Benachteiligung gilt festzuhalten, dass Akteurinnen und Akteure nicht mit diskriminierenden Absichten handeln und ihnen die benachteiligenden Folgen nicht bewusst sind. Wir möchten mit den aufgezeigten Erklärungsansätzen allen Beteiligten bewusst machen, wie sie in ihrem eigenen Verantwortungsbereich (unbeabsichtigte) Bildungsbenachteiligungen vermindern können. Bewährte Praxisideen können sie darin unterstützen, die vorhandenen Möglichkeiten wahrzunehmen und umzusetzen.

  1. (1) vgl. Becker & Schoch, 2018, S. 52f.

    (2) vgl. ebd., S. 35.

    (3) vgl. SKBF, 2018, S. 74. Im Bildungsbericht wird eine ähnliche Definition für den Begriff «equity» – oft mit Chancengerechtigkeit übersetzt – verwendet. Es wird dabei auf gleiche Möglichkeiten fokussiert. Mit dem Begriff «Bildungschancen» fokussieren wir stärker darauf, inwiefern Möglichkeiten wahrgenommen und verwirklicht werden können.

    (4) vgl. Becker & Schoch 2018, S. 8, 27, 36, 40.

    (5) vgl. Kronig 2003, S. 126.

    (6) vgl. SKBF 2018, S. 34.

    (7) vgl. Konsortium PISA.ch 2019, S. 20–27, 70, 86.

    (8) vgl. ÜGK, 2017, S. 113, 125.

    (9) vgl. SKBF, 2018, S. 64f.

    (10) vgl. ebd., S. 75.

    (11) vgl. Becker & Schoch 2018, S. 46.

    (12) vgl. SKBF, 2018, S. 159.

    (13) vgl. Dlabac et al., 2021, S. 3f.; 11–14.

    (14) vgl. Palardy, 2008, 21, 35.

    (15) vgl. D-EDK, 2016, S. 20f.

    (16) vgl. Becker & Schoch 2018, S. 35f.

    (17) vgl. Hug & Arn, 2018, S. 9.

    (18) vgl. Hofstetter, 2017, S. 15, 17.

    (19) vgl. z.B. Mantel et al., 2018, S. 16, 19, 130.

    (20) vgl. Hug & Arn, 2018, S.7–10 mit Bezug auf Sen, 2000.

    (21) vgl. z.B. Juhasz & Mey, 2006; Weitkämper, 2018, S. 12.

    (22) vgl. Weitkämper, 2019, S. 29-32.

    (23) vgl. Neuenschwander und Niederbacher 2019, S. 51 mit Bezug auf Lorenz, 2018.

    (24) vgl. z.B. Niederbacher und Neuenschwander, 2020, S. 743.

    (25) vgl. Sander et al., 2018, S. 187–193.

    (26) vgl. Weitkämper, 2019, S.32f.

    (27) vgl. Niederbacher & Neuenschwander, 2020, S. 742, 753–759.

    (28) vgl. ebd., 2020, S. 761.

    (29) vgl. Gomolla & Radtke, 2009, S. 275; Leemann et al., 2015, S. 188f.

    (30) vgl. Leemann et al., 2015, S. 174; Mantel et al., 2018, S. 128.

    (31) vgl. Mantel et al., 2018, S. 128.

    (32) vgl. Gomolla & Radtke, 2009, S. 275.

    (33) vgl. ebd., S. 273; 275.

    (34) vgl. Gmolla & Radtke, 2009, S. 268f.

    (35) vgl. Hofstetter, 2018.

    (36) vgl. Weitkämper 2018, S.24 mit Bezug auf Auernheimer und Rosen 2017, S. 445.

    (37) vgl. Leemann et al., 2015, S. 153.

    (38) vgl. z.B. Bourdieu & Passeron, 1971; Bourdieu, 1982, 1991.

    (39) vgl. Hradil 2000, S. 208–212; Lange-Vester & Künzli Kläger, 2021, S. 1–5.

    (40) vgl. Leemann et al., 2015, S. 148.

    (41) vgl. Kramer & Helsper, 2011, S. 110, 115, 120f..

    (42) vgl. Weitkämper, 2019, S. 27–29.

Materialien und Links

Empfohlene Literatur zur weiteren Vertiefung:

Leemann, R. J., Rosenmund, M., Scherrer, R., Streckeisen, U. & Zumsteg, B. (2015). Schule und Bildung aus soziologischer Perspektive. Ein Studienbuch für Lehrpersonen in Aus- und Weiterbildung. Bern: hep Verlag.

Mantel, C., Aepli, M., Büzberger, M., Dober, H., Hubli, J., Krummenacher, J., Müller, A. und Puškarić, J. (2019). Auf den zweiten Blick. Eine Sammlung von Fällen aus dem Schulalltag zum Umgang mit migrationsbezogener Vielfalt. Bern: hep.

Verwendete Literatur

Becker, R. & Schoch, J. (2018). Soziale Selektivität. Empfehlungen des Schweizerischen Wissenschaftsrates SWR.

 

Bildungsdirektion Kanton Zürich. (2020). (Hrsg.). Mit Leitsätzen zu einer gemeinsamen Beurteilungskultur. Ein Instrument für Schulleitungen, QUIMS-Beauftragte und Steuergruppen. Zürich: Bildungsdirektion.

Bourdieu, P. & Passeron, J.-C. (1971). Die Illusion der Chancengleichheit. Untersuchungen zur Soziologie des Bildungswesens am Beispiel Frankreich. Stuttgart: Klett.

 

Bourdieu, P. (1982). Die feinen Unterschiede. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

 

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D-EDK, (Deutschschweizer Erziehungsdirektoren-Konferenz). (2016). Lehrplan 21. Gesamtausgabe Kanton Zug. https://zg.lehrplan.ch/. Verifiziert am 14. Juli 2022.

 

Dlabac, O., Amrhein, A. & Hug, F. (2021). Durchmischung in städtischen Schulen – eine politische Aufgabe? Optimierte Einzugsgebiete für städtische Schulen. Studienberichte des Zentrums für Demokratie Aarau. Aarau: Zentrum für Demokratie Aarau.


Gogolin, I. (2008). Der monolinguale Habitus der multilingualen Schule (2. Aufl.). Münster: Waxman.

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Hofstetter, D. (2017). Die schulische Selektion als soziale Praxis. Aushandlungen von Bildungsentscheidungen beim Übergang von der Primarschule in die Sekundarstufe I. Weinheim: Beltz Juventa.

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Juhasz, A. & Mey, E. (2003). Die zweite Generation: Etablierte oder Aussenseiter? Biographien von Jugendlichen ausländischer Herkunft. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag.
 

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Niederbacher, E. & Neuenschwander, M. P. (2020). Herkunftsbedingte Leistungsdisparitäten: Die Rolle von Selbstwirksamkeitsüberzeugungen und Unterstützungshandlungen von Eltern und Leistungserwartungen von Lehrpersonen. Generalisierbarkeit eines Mediationsmodells für einsprachige und fremd- bzw. mehrsprachige Schülerinnen und Schüler. Zeitschrift für Erziehungswissenschaften, 23, 739–767. DOI: 10.1007/s11618-020-00955-9

Palardy, G. J. (2008). Differential school effects among low, middle, and high social class composition schools: a multiple group, multilevel latent growth curve analysis. School Effectiveness and School Improvement 19(1), 21–49. DOI: 10.1080/09243450801936845

Sander, A., Ohle, A., McElvany, N., Zander, L. & Hannover, B. (2018). Stereotypenbedrohung als Ursache für geringeren Wortschatzzuwachs bei Grundschulkindern mit Migrationshintergrund. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 21(1), 177–197. DOI: 10.1007/s11618-017-0763-1

 

SKBF. (2018). Bildungsbericht Schweiz 2018. Aarau: Schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung.

Weitkämper, F. (2019). Lehrkräfte und soziale Ungleichheit. Eine ethnographische Studie zum un/doing authority in Grundschulen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

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