Gedichte, Lieder und Reime eignen sich besonders gut, um unterschiedliche Sprachen in den Unterricht einzubeziehen. Dank Ritualen geschieht dies regelmässig.  

Text: Dominique Braun
Empfohlen für Zyklus 1 und 2

Beschreibung der Idee

Ritual mit Gedichten

Jeden Montagmorgen beginnt die Lehrerin für Deutsch als Zweitsprache (DaZ) in ihrer Aufnahmeklasse die Woche mit einem Gedicht aus einem Kalender. Jeden Montagmorgen hören die Kinder ihrer Klasse eine andere Sprache, denn die Gedichte stammen aus verschiedenen Ländern und Sprachregionen. Das wöchentliche Kalenderblatt enthält jeweils ein Gedicht in der Originalsprache und der deutschen Übersetzung sowie eine passende Illustration. 

Magla

Si hubiera que elegir un solo sonido,
dice que se quedaría con el que hacen las burbujas
al desaparecer.
Con un poco de esfuerzo lo puede escuchar.
Mira atenta los pequeños universos transparentes
Que se inician con su soplo y se mueven
por la pequenña galaxia des su casa
Par luego desaparecer.
Así : plap plap plap plap.

 

Aus: Ferrada, M.J. & Valdez, M.E. (2017). Magla. In Ferrada, M.J., Niños. Illustraciones de María Elena Valdez. Ciuadad de México: Editiones Castillo, S.A. de C.V.

Magla

Sollte sie sich für ein einziges Geräusch entscheiden,

es wäre, sagt sie, das von Seifenblasen,

wenn sie platzen.

Um es zu hören, muss sie die Ohren spitzen.

Gespannt betrachtet sie die kleinen, durchsichtigen Universen,

die entstehen, wenn sie pustet, und durch den kleinen Kosmos ihres Zuhauses schweben,

bis sie schliesslich platzen.

Das klingt so: plop plop plop plop.


Aus: Ferrada, M.J. & Valdez, M.E. (2017). Magla. In Ferrada, M.J., Niños. Illustraciones de María Elena Valdez. Ciuadad de México: Editiones Castillo, S.A. de C.V.

Die Lehrerin liest das Gedicht in Deutsch vor. Alle schauen sich gemeinsam die Illustration an. Und falls ein Kind die Originalsprache lesen kann und auch vorlesen möchte, liest es das Gedicht den anderen vor (vgl. Aufnahmen von Gedichten). Anschliessend versucht sich die ganze Klasse in der Originalsprache.
 

«Die strahlenden Kinderaugen, der Applaus und das Staunen der Gschpänli, das ist jedes Mal ein Hühnerhaut-Moment.»


Sibylle Bühler, DaZ-Lehrerin Aufnahmeklasse


Die Kinder lieben dieses Ritual. So holen sie den Kalender am Montag jeweils von sich aus hervor und setzen sich erwartungsvoll in den Kreis. Gedichte, die in die Ferienzeit fallen, darf die Lehrerin keinesfalls überspringen. Darauf achten die Schülerinnen und Schüler sehr genau.
 

«Die meisten Kinder meiner Klasse identifizieren sich stark mit ihrer Erstsprache. Die Kinder sind stolz auf ihre Sprache und erfahren durch das Vorlesen «ihres» Gedichts Wertschätzung und Bewunderung. Das stärkt das Selbstbewusstsein und die Identität der Kinder.» (Sibylle Bühler, DaZ-Lehrerin Aufnahmeklasse)
 

Sprachliche Rituale sind auch in Regelklassen ideal, um unterschiedliche Sprachen in den Unterricht einzubeziehen. Sie sind fest in einem täglichen, wöchentlichen oder monatlichen Rhythmus im Schulalltag eingeplant. Auch wenn sie nur kurz dauern, gewährleisten sie automatisch Regelmässigkeit. Sind Rituale erst einmal etabliert, brauchen sie zudem wenig Vorbereitung.
 

Schriftliche Texte ermöglichen einzelnen Kindern zudem, in ihrer Erstsprache zu lesen. Je nach Text erleben sie auch eine spezifische Textsorte in ihrer Erstsprache, im vorliegenden Beispiel das Gedicht. Beides sind wesentliche Aspekte, um die Literalität zu fördern.
 

In bestimmten Ritualen begegnen die Kinder sprachlichen Wiederholungen. Dadurch verfügen sie mit der Zeit über einzelne Begriffe, Satzfragmente oder ganze Sätze in unterschiedlichen Sprachen. Ein Beispiel dazu zeigt die zweite Ritual-Idee:

Ritual mit Begrüssungslied

«Guete Morge, guete Morge

Good morning, good morning

Buenos dias, buenos dias,

buongiorno, bonjour».

Dieses bekannte Begrüssungslied singt eine Kindergartenlehrperson regelmässig mit ihrer Klasse. Sie hat dafür eine neue Variante mit den Erstsprachen der Kinder kreiert (siehe Liedtext zum Herunterladen). So heisst es nun:

«Diten mire, diten mire
günyadin, günyadin
dobro jutro, dobro jutro
kamey hadir ka»

Die Kinder selbst und die Eltern haben bei den Übersetzungen geholfen:

«Es war mir wichtig, dass jede Sprache im Lied vorhanden war. Ich habe die Kinder gefragt, wie die Begrüssung in anderen Sprachen heisst. Dadurch konnten sie selbst entscheiden, ob sie sich einbringen wollten oder nicht. Bei den Sprachen, welche noch ausstehend waren, fragte ich direkt bei den Eltern nach. So hören auch die Kinder ihre Erstsprache, die sich nicht äussern oder den Transfer machen wollten oder konnten.» (Tessa Nievergelt, Lehrerin Kindergarten).
 

Die Eltern reagierten jeweils sehr positiv auf die Anfrage nach der Begrüssung. Gemeinsam mit der Lehrerin schrieben sie die Begrüssung auf und korrigierten die Aussprache, bis alles perfekt war.

So kann es gelingen

Sensibler Umgang mit Erstsprachen

Die Schülerinnen und Schüler entscheiden – wie oben erwähnt – selbst, ob sie einen Beitrag in ihrer Erstsprache leisten wollen oder nicht:
 

«Es hat sich bewährt, die Kinder nicht direkt anzusprechen. ‘Kennt jemand das Wort Maus noch in einer anderen Sprache?’, ‘Möchte jemand noch in einer anderen Sprache zählen?’. So können Kinder, die sich angesprochen fühlen, etwas beitragen.» (Tessa Nievergelt, Lehrerin Kindergarten)
 

Können sich die Kinder freiwillig mit ihrer Erstsprache beteiligen, machen Lehrpersonen keine sprachlichen Zuschreibungen. Sie garantieren so, dass sie bei Kindern nicht unbewusst ein Gefühl der Nicht-Zugehörigkeit oder des Andersseins hervorrufen. In der Fachsprache wird dieser Effekt als «othering» bezeichnet. Weitere Ausführungen dazu sind hier zu finden.
 

Bei schriftlichen Texten müssen Lehrpersonen daran denken, dass nicht alle Kinder in ihrer Erstsprache lesen können. Zudem sollten sich Lehrpersonen über die tatsächliche Erstsprache eines Kindes gut informieren. In vielen Ländern werden – wie in der Schweiz – unterschiedliche Sprachen gesprochen, z.B. in Eritrea, in der Türkei, in Spanien. So spricht ein Kind möglicherweise eine andere Sprache als diejenige, die die Lehrperson im ersten Moment vermutet. Weil Sprachen nicht mit Nationen gleichgesetzt werden können, ist es auch bedeutsam, dass Lehrpersonen die Sprachen differenziert verorten. Gut für Klassengespräche eignen sich etwa folgende Fragen: Wo wird diese Sprache überall gesprochen? Welche Sprachen sprechen die Menschen dieses Landes?
 

Gerade der differenzierte Umgang mit Sprachen nimmt der erwähnte Kalender besonders gut auf. So enthält er auch Gedichte in Sprachen, die von der jeweils offiziellen Landessprache abweichen, z.B. ein katalanisches Gedicht aus Spanien. Oder er berücksichtigt, dass eine Sprache in verschiedenen Ländern gesprochen wird, etwa mit einem französischen Gedicht aus Belgien und einem aus Kanada.
 

Verwendet die Klasse dieselben Texte mehrfach, z.B. in Liedern, achten Lehrpersonen auf eine korrekte Aussprache. Fehler könnten Kinder als wenig wertschätzend empfinden. Dies wäre nicht im Sinne der beabsichtigten Anerkennung.

Material

Lehrpersonen können im Voraus Sprachaufnahmen der verwendeten Texte organisieren. So gewährleisten sie für die Kinder die freiwillige Beteiligung. Und sie können mit Sprachaufnahmen Sprachen einbeziehen, die in der Klasse niemand spricht.
 

In einem Kalender oder Buch sind vermutlich nie alle Sprachen einer Klasse enthalten. Damit sich alle Kinder zugehörig fühlen, können Lehrpersonen ihre Sammlung mit der Zeit erweitern. Auch Texte aus unterschiedlichen Dialekt- und Sprachregionen der Schweiz stellen eine spannende Ergänzung dar.
 

Eine Auswahl von Gedichten, Liedern etc. in verschiedenen Sprachen zur Verfügung zu haben, wenn möglich auch noch als Sprachaufnahmen, braucht Zeit. Warum nicht als Stufen- oder Schulhausteam dasselbe Ritual pflegen und dazu eine gemeinsame Sammlung aufbauen? Dies würde auch klassenübergreifende Rituale ermöglichen.

Sprachvergleiche

Selbstverständlich können in diesen Ritualen die Sprachen auch verglichen werden. Idealerweise plant die Lehrperson dafür explizit Zeit ein. Auch ohne längere Zeitfenster ist es jedoch möglich, Begriffe, Satzteile und Texte zwischen verschiedenen Sprachen kurz zu vergleichen. Ideen für Sprachvergleiche haben wir hier beschreiben.

Materialien und Links

Internationale Jugendbibliothek München (Hrsg.) (2020). Der Kinder Kalender 2021. Mit 52 Gedichten und Bildern aus aller Welt. Zürich-Hamburg: edition momente. Edition Momente Verlag, Kinder Kalender 2021
edition-momente.com

Sprachaufnahmen Gedichte
Diese Sprachaufnahmen von Gedichten in verschiedenen Sprachen haben Kinder in typischen Alltagssituationen gelesen, ohne sie vorgängig stundenlang zu üben, um sie zu perfektionieren. Denn bei dieser Idee geht es um das Erleben unterschiedlicher Sprachen und um die Freude daran.

Englisches_Gedicht_Frage

Italienisches_Gedicht_Sonne

Niederländisches_Gedicht_Regen

Russisches_Gedicht_Frühlingsmärchen

Verse und Lieder in verschiedenen Sprachen:
Verse/Lieder – Silvia Hüsler silviahuesler.ch

Manya Stojic (2002). Hello World!: Greetings in 42 Languages Around the Globe!
New York: Scholastic.

Kontakt

Dominique Braun
Dozentin, PH Zug

Sprachen sichtbar machen

Eine Schulkultur, die alle Sprachen ihrer Schülerinnen und Schüler anerkennt und wertschätzt, macht diese Sprachen sichtbar:

Mehrsprachigkeit als Normalität

Eine Didaktik der Mehrsprachigkeit bezieht alle Sprachen der Schülerinnen und Schüler selbstverständlich mit ein. Sie ermöglicht ihnen Sprachbegegnungen und lässt sie über Sprache nachdenken:

Erstsprachen fördern

Nicht-deutsche erstsprachliche Kompetenzen und jeweilige bildungssprachliche Fähigkeiten können auch in der Regelklasse gefördert werden, idealerweise in Zusammenarbeit mit den Lehrpersonen des Unterrichts in Heimatlicher Sprache und Kultur (HSK):

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